Bre­me­r*in­nen ohne Krankenversicherung: Endlich Arzttermine für alle

Seit September werden Unversicherte in Bremen im regulären Gesundheitssystem behandelt. Die Kosten übernimmt die Stadt.

Ein Mensch im Arztkittel macht sich Notizen, gegenüber am Tisch sitzt ein anderer Mensch.

Zum Arzt gehen – in Bremen ist das jetzt auch für Menschen ohne Versicherung möglich Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

BREMEN taz | „Es gab keine Chance“, sagt Baj­rami Medi. Der Bremer Streetworker hat in der Vergangenheit oft versucht, Kli­en­t*in­nen zum Arzt zu bekommen. Aber für Mazedonier*innen, für Bulgar*innen, für viele andere war seine Suche nach einem Termin meist vergeblich. „Dabei bin ich alle Wege gegangen“, erzählt er, „zum Jobcenter, zur Krankenkasse, zu den Ärzten. Ich war verzweifelt.“

Seit ein paar Wochen erst ist das anders; Medi steht heute in einer ehemaligen Arztpraxis in Bahnhofsnähe, beim Tag der offenen Tür: Der „Verein zur Förderung der medizinischen und gesundheitlichen Versorgung von nichtversicherten und papierlosen Menschen in Bremen“, kurz MVP, stellt sich vor. Er hat Anfang September seine Arbeit aufgenommen – und ist Bremens Versuch, das Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung für alle einzulösen.

102 Menschen waren seitdem für 300 Termine dort, zur medizinischen Sprechstunde oder zur Beratung. Etwa der Hälfte konnte vor Ort geholfen werden, die andere Hälfte wurde weiterüberwiesen: ins Krankenhaus, zu Therapeut*innen, in Facharztpraxen. Hilfsangebote zur Notversorgung gab es schon vorher und gibt es weiterhin. Die Weitervermittlung ins reguläre Gesundheitssystem ist das eigentlich Revolutionäre.

Das Grundgesetz kennt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Vereinten Nationen kennen das Menschenrecht auf den „höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit“. Doch ein Leistungsanspruch des Einzelnen auf Gesundheitsversorgung ließ sich daraus bisher rechtlich nicht gegen den deutschen Staat ableiten.

Obdachlose und Papierlose fallen raus

Das Krankenversicherungssystem erfasst nicht jeden. Herausfallen können Obdachlose, viele EU-Bürger*innen ohne Job, Papierlose und Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Wie viele Menschen in Bremen betroffen sind, ist nicht bekannt; die Linksfraktion schätzt ihre Zahl auf 4.000.

Gezielt geworben hat der MVP bisher nicht für sein Angebot, die Vermittlung läuft über die Anlaufstellen für Papier- und Obdachlose und über Mund-zu-Mund-Propaganda. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Pa­ti­en­ten noch stark zunimmt, wenn wir bekannter werden“, sagt Holger Dieckmann vom Verein.

Durchschnittlich dreimal waren die einzelnen Pa­ti­en­t*in­nen in den neun Wochen seit Projektstart vor Ort. Viele haben komplexe Krankheitsbilder: Sie sind nicht vorbehandelt, über die Jahre haben sie Krankheiten verschleppt.

Möglichst viele in die Krankenversicherung bringen

Die vielen Besuche pro Pa­ti­en­t*in liegen aber auch an der zweiten wichtigen Aufgabe des MVP: Der Verein versucht, Menschen nicht nur zu behandeln und zu überweisen, sondern sie doch noch im regulären Gesundheitssystem unterzubringen; für viele deutsche Obdachlose, für manche EU-Bürger*innen gibt es eine Chance. „Einer unserer Klienten war jetzt 17-mal bei uns – aber das ist ein gutes Zeichen“, sagt Dieckmann. „Es heißt, dass wir etwas in die Wege leiten können.“

Diese Möglichkeit gibt es längst nicht immer. Menschen mit abgelehntem Asylantrag, aber auch EU-Bürger*innen, die schon länger ohne Arbeit dastehen, haben oft keine Chance, in die Versicherung zu kommen. Für rund die Hälfte der Menschen, die den MVP aufsuchen, bleibt der Verein dauerhaft der einzige Zugang zum Gesundheitssystem.

Finanzierung durch die Stadt, statt durch die Kasse

Etwa 2.000 Euro Budget ist pro Pa­­ti­en­t*in für die Behandlung vorgesehen. „Viele Behandlungen sind natürlich günstiger“, erklärt David Saputera, der eigentlich Anästhesist ist, jetzt aber parallel auch Haus- und Hofmediziner des MVB. Höhere Kosten für Einzelne gleichen sich damit oft aus – das meiste lässt sich vom Budget finanzieren. Was aber, wenn eine Behandlung sehr viel aufwendiger ist? Eine Krebsbehandlung etwa kostet um die 150.000 Euro, pro Jahr. „Wir versuchen dann, mit den Krankenkassen und den Krankenhäusern einen Kompromiss zu finden“, erklärt Saputera.

„Dauerhaft keine ideale Lösung“, findet Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke). Ursprünglich hatte das Land für die garantierte Gesundheitsversorgung eine anonyme Gesundheitskarte präferiert. Die Kosten der Behandlungen über diese Karte hätten die Krankenkassen auffangen müssen, die AOK war schon gesprächsbereit; das Bundesrecht erlaubte diese Lösung aber nicht.

Für die Betroffenen sei die jetzt gefundene Lösung ähnlich gut, glaubt Bernhard, die nachhaltige Finanzierung aber sei schwieriger. Die nächste Koalition müsse das Projekt im Haushalt verstetigen – aktuell ist die Finanzierung nur bis Ende 2023 gesichert, das Geld stammt aus dem Bremen-Fonds. „Perspektivisch aber müssen wir die Menschen einfach ins Versicherungssystem reinbekommen“, meint Bernhard. Allein kann Bremen das wohl nicht. „Aber es sind ja alle Länder betroffen. Gesundheitliche Versorgung ist das Elementare.“

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