Geschichten von Großmüttern: Wandelnde Festplatte
Die Großmutter unseres Autors war die Hüterin umfassenden Wissens in der Familie. Heute bereut er, vieles davon nicht festgehalten zu haben.
I ch trage immer noch so ein paar Wollsocken, die hat mir meine Oma mal geschenkt. Die Socken sind verlebt, die Wollfäden steinhart, die Maschen riesig, die Dinger sind weder weich noch halten sie warm. Aber ich komme nicht los von ihnen. Ich trage noch zwei Paare drunter.
Um hier gleich jeder Form von falscher Vorstellung zu begegnen: Meine Oma war nicht dieser kuschelige, fürsorgliche Typ. Sie hat die Socken auch gar nicht selber gestrickt. Sie hat sie einer strickenden Dame im Altersheim abgekauft. „Eigentlich wollte ich dir selber ein Paar stricken“, schrieb sie mir, etwa 90-jährig, auf dickem rosa Briefpapier, „aber dann hatte ich keine Lust.“ Es ist diese Weisheit, die ich liebe, die von mir kommend, in meinem Alter, Trotz wäre.
Aus welchem kosmischen Grund auch immer, dieses Jahr war für mich ein Jahr der Großmuttergeschichten. Entweder bin ich besonders oft über sie gestolpert oder sie liegen dieser Tage einfach mehr im Weg herum. Da ist natürlich das kürzlich mit dem Deutschen Buchpreis prämierte „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon, in dem die Großmutter die Adressierte ist. Ich schlug „Blutbuch“ auf, gleich nachdem ich „Johnny Appleseed“ zugeschlagen hatte, den Roman der kanadischen Oji-Cree Autor*in Joshua Whitehead. Dort gibt es eine „Kokum“, von der alles ausgeht und auf die alles hinläuft. Meine Kollegin Lin Hierse derweil schreibt in ihrem Buch „Wovon wir träumen“ über zwei Großmütter, die sich nur in Träumen treffen können, weil sie eine Welt weit auseinander wohnen. Ich las auch Toni Morrisons „Solomons Lied“ von 1977 – die Figur Pilate darin ist zwar streng genommen eine Tante, aber als ältestes überlebendes Familienmitglied nimmt sie quasi die Rolle der Großmutter ein.
Anders als Muttergeschichten handeln Großmuttergeschichten für mich nicht nur von Herkunft im Sinne einer jüngeren Vergangenheit. Die Großmutterfiguren, als letzte lebende Verbindung zu den Ahnen, werden behandelt als so etwas wie Hüterinnen der Mythen, der Traditionen, der mündlichen Überlieferung.
Gespeichertes Wissen
Und das zu Recht – meine Oma zumindest war eine wandelnde Festplatte. Sie hatte gespeichert: Kochrezepte (ohne jede numerische Maßangabe) und Hausmittelchen; eine Dialekt-, eine Hoch- und eineinhalb Fremdsprachen; das deutsche Steuerrecht und die Weltkarte; Familienstammbäume und -geheimnisse bis zurück ins 18. Jahrhundert sowie die Thronfolge der europäischen Königshäuser bis zur zwölften Position; die Tatsache, dass Gunda Niemann-Stirnemann eigentlich eine geborene Kleemann ist; einen Zeitzeuginnenbericht vom NS-Faschismus aus Sicht der untätigen nichtjüdischen Bevölkerung; und jede Menge Sprüche, Gedichte, Bauernregeln, Redensarten oder überlieferte Weisheiten, mal nützlich, mal chauvinistisch, mal längst widerlegt.
Als meine Oma gestorben ist, hatte ich noch nicht kapiert, dass fast alles Wissen verloren geht. Dass der Teil, der aufgeschrieben wird, extrem klein ist. Und der aufgeschriebene Teil, der wiederum Kanon wird, sogar lächerlich winzig. Ich habe erst später kapiert, dass es oft kein Zufall ist, was in die Geschichte eingeht und was in den wilden Garten der Oral History, nun ja, eingeht. Es hat mit Macht zu tun. Und mit Normen. Das rekonstruieren Kim de l’Horizon, Joshua Whitehead, Lin Hierse, Toni Morrison und viele andere aus queerer, weiblicher, migrantischer, kolonisierter und aus BIPoC-Perspektive: Welche Traditionen hat das kanonische Wissen verdrängt?
Das Tragische ist, dass meine Oma ebenso wenig Lust aufs Erzählen hatte wie aufs Stricken. Man musste fragen, immer weiter fragen. Jede Frage, die ich ihr nicht gestellt habe, nagt heute an mir. Es werden täglich mehr. Also behalte ich ihre Socken. Und ihren rosa Brief, mit der unverblümten Strickverweigerung. Bloß eins von beiden Artefakten aufzuheben, würde sich wie eine Lüge anfühlen. Erst beide zusammen machen die Überlieferung komplett.
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