Geschichten aus dem Prenzlauer Berg: Der Kiezfürst
Bernd Holtfreter sprengte mit seinem Wesen die engen Grenzen der DDR. Er wehrte sich gegen Gentrifizierungen, als kaum einer wusste, was das ist.
BERLIN taz | Bernd Holtfreter, Kiezfürst der Ostberliner Oderberger Straße, passte nicht in die DDR. Er war dynamisch, voller Ideen. Alles an ihm sprengte dieses Kleinteilige, in das die DDR ihre Bürger zu zwängen versuchte. Und doch war der Rostocker ein gelernter DDR-Bürger. Er lebte den Kiez, wusste zugleich die Bürokratie des Prenzlauer Berges eigenwillig zu nutzen. Heraus kam dabei eine eigene Melodie, die gelegentlich sogar die Verhältnisse und die Herrschenden zum Tanzen brachte.
Vor allem gelang Bernd Holtfreter, im letzten Jahr der Honecker-DDR 38 Jahre alt, mit seinen Mitstreitern bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, was zuvor noch nie in der DDR gelungen war: Sie setzten einen oppositionellen Kandidaten durch.
Holtfreter war immer auch ein Pionier. Hoch aufgeschossen, eilte er mit weiten Schritten heran, meist gut drauf, mitreißend. Er war informeller Herausgeber, Chefredakteur, Marketingchef der Zeitung „die Anderen“, und Holtfreter wirkte als Motor des BasisDruck-Verlages. Das war im Frühjahr 1990, als die Ostberliner Bürgerbewegten im Haus der Demokratie saßen, der ehemaligen SED-Kreisleitung in der Friedrichstraße. Gregor Gysi hatte das Gebäude herausgerückt, wohl auch um der Bürgerbewegung zu gefallen.
In den Jahren zuvor lebte Bernd Holtfreter eher unstet. Manch einer hätte ihn verdächtigt, eine gescheiterte Existenz zu sein. Am Ende seiner Kfz-Lehre, so erinnert sich sein Bruder Jürgen, händigten sie ihm den Gesellenbrief nicht aus, weil er sich die langen Haare nicht abschneiden wollte. Seither jobbte er mal als Filmvorführer, Theaterankleider, Landvermesser. Solche Karrieren teilte er freilich mit anderen, die angeeckt waren und im Prenzlauer Berg landeten. Der Physiker und Oppositionelle Gerd Poppe beispielsweise, den er aus Kindertagen in Rostock kannte.
Kein klassischer Oppositioneller
Holtfreter war eher gefühlsmäßig links. Er landete nicht bei der klassischen Opposition, die sich oft unter dem Dach der Kirche zusammenfand. Eigentlich eignete er sich eher für eine Heldenfigur in einem proletarischen Filmepos der kommunistischen Tauwetterperiode – nur ohne Parteibuch.
Holtfreter bot sich schließlich der SED als WBA-Vorsitzender an. WBA: der Wohnbezirksausschuss sollte sich um soziale Belange, die Verbesserung des Wohnumfeldes und letztlich um Ordnung und Sicherheit kümmern und eng mit der Volkspolizei und der SED zusammenarbeiten. In der Regel waren es Parteirentner, die den WBA stellten. Wegen des Bevölkerungswandels im Prenzlauer Berg entstand aber ein Vakuum. Das war die Stunde von Bernd Holtfreter und seinen Freunden.
Um zu verstehen, was das daran ungewöhnlich war, muss man einen Schritt zurückgehen. Der alte Stadtbezirk Prenzlauer Berg war zum legendären Prenzlberg geworden, weil die angestammten Bewohner in die Platte zogen. Jüngere, unkonventionelle DDR-Bürger rückten nach. Dadurch gerieten die Herrschaftsinstrumente der SED im Wohngebiet in Gefahr. Eigentlich sollte in jedem Haus eine Hausgemeinschaftsleitung für die soziale Kontrolle sorgen, darüber auf Wohnblockebene der WBA.
Die SED war über Holtfreters Ansinnen zunächst entsetzt und wollte das Feld keinem Parteilosen überlassen. Schließlich musste sie nachgeben, um den WBA 56, so hieß sein Arbeitsbereich, überhaupt besetzen zu können. Holtfreter agierte „rührig, aber er war kein Platzhirsch“, erinnert sich der Weggefährte Dietmar Halbhuber.
Zahlreiche Kiezbewohner zogen mit, zählten die verrotteten Schornsteine, um den Instandhaltungsbedarf zu messen. Sie betreuten sozial gefährdete Familien, und ihre Selbsthilfebrigaden begrünten die Hinterhöfe. Der „begabte Autodidakt“ Holtfreter spürte Gesetzeslücken auf und vermittelte junge Zuzügler in leerstehende Wohnungen. Zum kulturellen Zentrum entwickelte sich der „Hirschhof“ inmitten des Quartiers.
Selbst die Volkspolizei sprang Holtfreter bei
Die Stadtbezirksoberen misstrauten den selbstorganisierten Filmvorführungen, Lesungen, Ausstellungen und Festen. Holtfreter hielt dagegen, der Hof sei „grüne Oase und durch Veranstaltungen Kommunikationsort“. Ausgerechnet die örtliche Volkspolizei sprang ihm bei, weil sie die integrative Wirkung zu schätzen wusste.
Die eigentliche Politisierung kam als Reaktion auf Abrisspläne in dem Kiez. Seit 1987 war ruchbar geworden, dass die SED plante, Altbausubstanz in der Mitte Berlins abzureißen. Ein Modellprojekt für die DDR sollte die Substanz ersetzen, ein „Führungsbeispiel“ sollte das werden, mit dem der Berliner SED-Chef Schabowski bis zum nächsten SED-Parteitag, 1990, brillieren wollte.
Holtfreter sammelte Informationen, die in einer Diktatur wie der DDR nicht einfach zu haben waren. Er war besessen gründlich: hier kleine Zeitungsausschnitte, dort Gekritzeltes auf Karteikarten, Papiere. Auch SED-Institutionen, denen die Bauplänen ebenso wenig behagten – die Bauakademie etwa –, versorgten ihn mit Informationen. Holtfreter schaute auch darauf, was im Westteil der Stadt passierte. Dort hatten Hausbesetzungen und Krawalle zum Umdenken in der Altbausanierung geführt.
„Er war fasziniert von der behutsamen Stadterneuerung“, erinnert sich sein Bruder Jürgen. Der lebte in Westberlin inmitten der Szene und musste seinem Bruder bei Besuchen in Ostberlin immer berichten.
Die Vorboten der Wende
Die WBAs organisierten ein Treffen mit Baufachleuten. Sie machten den eigentlich internen Termin publik. Die kontroverse Bürgerdebatte im Kreiskulturhaus „Prater“ wurde zum Vorboten des Herbstes 1989.
Mit den Kommunalwahlen eskalierte die Sache. Die WBAs waren im System der DDR eigentlich die unterste Struktur der Nationalen Front, des Zusammenschlusses der Parteien und Massenorganisationen, die die SED-beherrschten Wahlen steuerte. Holtfreter und Co nahmen einfach wörtlich, was im Gesetz stand. Sie schlugen zwei eigene Kandidaten vor. Die offiziellen Vertreter der Nationalen Front reagierten mit „ungläubigem Entsetzen“, so erinnert sich ein Mitstreiter.
Die SED wollte durchzocken, 150 Kiezbewohner demonstrierten vor dem Rathaus Prenzlauer Berg. Die WBAs drohten, die Wahlen zu boykottieren. Insgesamt 78 Personen, darunter Bernd Holtfreter, unterschrieben mit vollem Namen. „Bernd hatte keine Angst vor der Stasi,“ sagt Kerstin Flock, eine Gefährtin von damals.
Eine Wahlveranstaltung im Prater war mit 400 Personen brechend voll. Die SED beugte sich schließlich dem sich aufbauenden Druck und setzte zwei Alternativen als Kandidaten der Gewerkschaft FDGB mit auf die Liste. Die Zahl der Gesamtmandate wurde von 220 auf 222 erhöht, damit die Stimmenarithmetik des Blocks erhalten blieb.
Zu dieser Zeit war die Stasi schon hinter Holtfreter her, weiß sein Bruder heute, nachdem die Akten geöffnet sind. Aber das Prinzip von Furchtlosigkeit und Öffentlichkeit siegte. „Wir haben uns einfach nicht um die Stasi gekümmert, wir haben die Sachen einfach offen gemacht“, erläutert das ehemalige WBA-Mitglied Leon Bayer die damalige Strategie.
Anders als mit einer gehörigen Portion Chuzpe ist der Erfolg auch kaum zu erklären. Einer der beiden Kandidaten, die schließlich zu Stadtverordneten gewählt werden, war Matthias Klipp, heute Baudezernent in Potsdam. Damals hatte er Verbindungen zur kirchlichen Opposition und wurde von der Stasi im sogenannten Operativen Vorgang „Atom“ bearbeitet. Seine Nominierung war etwas, was es dank der Stasi in der DDR eigentlich nicht geben sollte. Der Erfolg ließ manchen übermütig werden. Radikale Künstler präsentieren ein Wahlplakat mit drei Affen, die ein leeres Oval tragen: eine Anspielung auf das SED-Parteiabzeichen.
Auch die aufmüpfigen WBAs beteiligten sich auf ihre Art am Protest gegen die undemokratischen Wahlen. Doch wenn Holtfreter mit der Kirchenopposition in einen Topf geworfen wurde, reagierte er süßsauer. Er wollte den WBA nicht aufs Spiel setzen. Im Unterschied zu den Kirchengruppen kontrollierte der WBA 56 die Wahlen nicht von außen, er war an der Wahldurchführung und Auszählung offiziell beteiligt.
Die Unterwanderung war aufgegangen
Es war typisch für Holtfreters Temperament, dass er davon ausging, dass eine satte Hälfte der Wahlberechtigten die Einheitsliste der SED ablehnen würden. Tatsächlich wurden es immerhin 13,89 Prozent Neinstimmen. Da Dutzende Wahlbeobachter in anderen Wahllokalen unterwegs waren, konnte erstmals nachgewiesen werden, dass das offizielle Wahlergebnis von 1,86 Prozent Neinstimmen gefälscht war. „Bernd und ich lächeln uns an“, schrieb ein Mitstreiter in sein politisches Tagebuch, die Unterwanderungsstrategie war aufgegangen.
Die Wahlen gaben der Opposition Auftrieb. Im Oktober wendeten sich gar 20 WBA-Mitglieder an die Abgeordneten der Volkskammer der DDR. Sie forderten, den für die Wahlen verantwortlichen Egon Krenz nicht als Staatsoberhaupt zu wählen. „Bitte tun Sie das Ihre, um verloren gegangenes Vertrauen wieder herzustellen!“
Wo solche Briefe geschrieben wurden, war das Ende der DDR nicht mehr weit. Holtfreter wollte eigentlich den neuen BasisDruck-Verlag erweitern, einen Radiosender aufmachen. Aber das rein privatwirtschaftliche Kalkül war seine Sache nicht. Irgendwann liefen diese Projekte nicht mehr. Auch der Kiez veränderte sich. Der Immobilienmarkt in der Hauptstadt sprang an, Gentrifizierung drohte.
Holtfreter nahm schließlich ein Angebot der PDS an und rückte auf deren offener Liste in das Berliner Stadtparlament ein. „Das haben viele seiner Freunde nicht verstanden“, sagt sein Bruder. Aber irgendwie passte es zum linken Pragmatismus des Bernd Holtfreter, der sich um die mögliche Symbolik dieses Schrittes wenig zu scheren schien.
Bevor Bernd Holtftreter 2003 starb, wurde er zum parlamentarischen Exponenten der Mieterbewegung: „Wir bleiben alle“ – so lautete der Schriftzug auf einem Logo, das er selbst entworfen hatte. Es ist kein Zufall, dass das Akronym „WBA“ lautet.
Gerahmt ist es von einem windschiefen Haus, das an den morbiden Charme der Oderberger Straße in Prenzlauer Berg erinnert.
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