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Gerichtsverfahren zu Arbeitszeit24-Stunden-Pflege gerät unter Druck

Wie viele Stunden arbeitet eine Betreuerin, die mit im Haushalt wohnt? Ein Gerichtsfahren bringt die häusliche Rundum-Pflege ins Wanken.

Ein Auslaufmodel? Viele osteuropäische PflegerInnen wollen sich nicht mehr ausbeuten lassen Foto: Marijan Murat/ dpa

Berlin taz | Es ist ein Modell, das Tausenden von hochaltrigen Menschen in Deutschland ermöglicht, weiterhin in den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben. Auch dann, wenn sie Hilfe beim Aufstehen, beim Waschen, Essen, bem Toilettengang brauchen: die sogenannte 24-Stunden-Pflege. Doch ein Gerichtsverfahren könnte das Modell jetzt gefährden. Die Krux dabei sind die Arbeitszeiten.

Über Agenturen vermittelt, zahlen Haushalte zwischen 2.000 und 2.500 Euro im Monat für eine Betreuerin aus Polen oder einem anderen osteuropäischen Land. Diese lebt dann mit im Haushalt der SeniorIn. „Das ganze Modell funktioniert nur, weil es in einem Graubereich stattfindet“, sagt Justyna Oblacewicz vom Projekt „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftbunds (DGB). Oblacewicz berät Dobrina D., Bulgarin, 69 Jahre alt, die vor Jahren als sogenannte 24-Stunden-Betreuung in einem deutschen Haushalt arbeitete.

D. wurde vermittelt über eine Agentur mit Hauptsitz in München und war angestellt bei einer bulgarischen Zeitarbeitsfirma, die sie entsandte. Nun klagt sie auf eine Lohnzahlung für die tatsächlich geleistete Arbeitszeit im Jahre 2015: 45.000 Euro. Ihr Arbeitsvertrag bei der bulgarischen Firma hatte nur eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden vorgesehen, für rund 1.000 Euro netto im Monat. Tatsächlich aber versorgte D. eine über 90-jährige Dame, die rund um die Uhr Hilfe brauchte.

Im Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg in der vergangenen Woche schlug die Richterin jetzt einen Vergleich vor, da die Beweiserhebung sich sehr schwierig gestalte. Der Vergleichsvorschlag solle demnächst vom Gericht vorgelegt werden und werde wohl bei 10.000 Euro liegen, sagt Oblacewicz. Die Parteien haben dann drei Wochen Zeit, dem Vergleich zuzustimmen. Andernfalls geht das Verfahren in die nächste Runde. D. hat bereits erklärt, dem Vergleich zuzustimmen, der Anwalt der beklagten bulgarischen Zeitarbeitsfirma will sich darüber mit der Firma beraten.

6.700 Euro Bruttolohn

Macht die Entscheidung des Gerichts die Runde in der Branche, „bringt das ein Geschäftsmodell in Gefahr, das vor allem auf der Ausbeutung von Frauen aus osteuropäischen Ländern beruht“, sagt Oblacewicz. Tausende weitere Betreuerinnen aus den Haushalten könnten versuchen, sich eine Lohnnachzahlung zu erstreiten. „Ich hoffe, dass noch viel mehr Frauen klagen“, sagt Oblacewicz.

Sie dringt darauf, dass die Arbeits- und Bereitschaftszeiten der Pflegehilfskräfte juristisch korrekt bezahlt werden. Laut Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts von 2016 muss der durchschnittliche Stundenlohn für die Arbeitszeiten einschließlich der Bereitschaftszeiten wenigstens dem Mindestlohn entsprechen. Müsste eine Pflegehilfskraft also tatsächlich 24 Stunden am Tag in dem Haushalt arbeiten oder sich während der Schlafzeiten der Pflegebedürftigen für einen Einsatz bereithalten, würden bei einem Mindestlohn von 9,35 Euro die Stunde insgesamt mehr als 6.700 Euro im Monat an Bruttolohn fällig.

Dies wäre wohl unbezahlbar für die allermeisten Haushalte. Zudem würden die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes, die im Schnitt nur maximal 48 Wochenstunden Arbeit erlauben, ausgehebelt.

Renata Föry, Geschäftsführerin der Vermittlungsagentur Seniocare24 mit Sitz im rheinland-pfälzischen Kandel, kennt das Problem. „Wir machen nur Arbeitsverträge mit 30 oder 40 Wochenstunden“, sagt Föry, die polnische Betreuerinnen vermittelt und von der Stiftung Warentest positiv bewertet wurde.

Was ist mit den ­„Bereitschaftszeiten“?

Die Betreuerin im Haushalt müsse zwei bis drei Stunden am Tag frei haben, sagt Föry. In der Nacht muss es für sie möglich sein, zu schlafen. Die Geschäftsführerin stuft die „Bereitschaftszeiten“ im Haushalt allerdings anders ein, als es die JuristInnen tun: „Wenn die Betreuerin sich tagsüber in ihr Zimmer zurückzieht und dort liest, telefoniert oder über das Internet mit der Familie in Polen skypt, dann ist das für uns keine Arbeitszeit, die bezahlt werden muss“, sagt Föry.

Die Betreuerinnen seien angehalten, die tatsächlichen Arbeitszeiten, also die Tätigkeiten in der Pflege und im Haushalt, zu dokumentieren, so Föry. Für diese Arbeitszeiten gelte dann die 40-Stunden-Vorgabe. Dass die tatsächliche Arbeit in der Pflege und im Haushalt für einen einzelnen Menschen nur 40 Stunden in der Woche betragen könnte, ist dabei nicht vollkommen unrealistisch: In der Heimpflege wurden für BewohnerInnen im Schnitt nur 100 Minuten am Tag an Personaleinsatz für die Pflege errechnet.

Der entscheidende Punkt ist die dauerhafte Bereitschaft der sogenannten „Live-in“-Betreuungskräfte, die die SeniorInnen bei Bedarf zur Toilette führen oder die Vorlagen wechseln, die ihnen auf Wunsch etwas bringen, ihnen Ansprache bieten sollen. In der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte werden „Bereitschaftszeiten“, etwa auch in Kinderheimen oder Krankenhäusern, als Arbeitszeit gewertet.

Ein Vergleich vor Gericht, der den Betreuerinnen hohe Nachforderungen erlaubt, könnte die Branche aufrütteln. Forderungen würden dann möglicherweise auch andere BetreuerInnen stellen, die über Zeitarbeitsfirmen in Osteuropa und hiesige Agenturen in deutsche Haushalte vermittelt werden. „Wird das stärker überwacht, dann nimmt die Schwarzarbeit zu“, sagt Föry.

Schätzungen: Rund 80 Prozent Schwarzarbeit

Sie verweist auf Schätzungen, dass von den 100.000 bis 400.000 Haushalten mit osteuropäischen BetreuerInnen nur 10 Prozent mit einer Agentur arbeiten, weitere 10 Prozent der BetreuerInnen kämen als Selbstständige, etwa 1 Prozent wird im Arbeitgebermodell vom Pflegehaushalt selbst angestellt. Die große Mehrheit aber findet sich laut der Schätzungen im Bereich der Schwarzarbeit.

Viel wird über das Internet und Social Media vermittelt. Dabei gebe es etwa Fälle, in denen der Haushalt die Betreuerin als Minijobberin für 450 Euro beschäftigt und dann 1.000 Euro „schwarz“ obendrauf zahle, erzählt Föry.

Der Markt habe sich ohnehin in den letzten Jahren verändert, sagt die Agenturchefin. „Früher konnten die Frauen aus Polen in der Pflege in Deutschland das Dreifache verdienen wie zu Hause, heute ist es vielleicht nur das Doppelte. Da wird es immer schwieriger, noch Frauen für diese Arbeit in Deutschland zu gewinnen.“

Oblacewicz kennt die angespannte Situation der Pflegehaushalte. Eine Möglichkeit für legale Verhältnisse bestünde darin, die Frauen tatsächlich nur 40 Stunden in Arbeit und Bereitschaft arbeiten zu lassen und die Zeiten drumherum beispielsweise durch Tages- und Nachtpflegestellen sowie innovative Betreuungskonzepte abzudecken, sagt sie.

Tagespflegestellen zu finden, ist in vielen Gebieten allerdings gar nicht möglich. Und viele SeniorInnen wollen da auch gar nicht hin.

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4 Kommentare

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  • Ich hoffe inständig, die beklagte Zeitarbeitsfirma sucht den Weg durch die Instanzen. Ein (möglichst höchstrichterliches) Urteil würde ein für alle Mal Klarheit schaffen. Würde die Firma dann eins auf den Deckel kriegen, würde es kaum einen Falschen treffen - es handelt sich in der Tat vielfach um Ausbeuter, ähnlich jenen in der Fleischbranche.

    Auch denke ich nicht, dass das gesamte System zur Disposition steht. All jene, die "schwarz" arbeiten dürften von dem Urteil kaum profitieren. Andere EU-Länder haben diese Arbeitnehmer bereits als "Selbständige" eingeordnet und für die gelten weder Arbeitszeitbeschränkung noch Mindestlohn.



    Und selbst wenn - die Ansichten der Gewerkschaftsvertreterin hinsichtlich der Bereitschaftszeit ist aus juristischen Gründen abzulehnen. Hätte die Pflegeperson eine eigene Wohnung in Deutschland, so würde die Verpflichtung, auf Anruf zur Arbeit zu erscheinen zweifellos als (unbezahlte!) Rufbereitschaft zählen. Nur weil sich die "Wohnung" im Haus der zu betreuenden Person befindet, kann nicht einfach Gegensätzliches angenommen werden. Es würde also auf einen exakten und lückenlosen Arbeitsnachweis hinauslaufen, den wohl kaum eine Pflegekraft für die Vergangenheit wird erbringen können.

    • @Cerberus:

      "[…] so würde die Verpflichtung, auf Anruf zur Arbeit zu erscheinen zweifellos als (unbezahlte!) Rufbereitschaft zählen. […]"

      Rein rechtlich ist eine unbezahlte Rufbereitschaft möglich (wer sich das heute als Arbeitnehmer noch bieten lässt, ist selbst schuld). Die Frage ist aber, ob nicht durch den Charakter der Unterbringungssituation mit dem expliziten Ziel, eine jederzeitige sofortige Heranziehung zur Arbeit zu ermöglichen, statt einer Ruf- eine entgeltpflichtige Arbeitsbereitschaft besteht. Denn Wesenskern der Rufbereitschaft ist, dass der Arbeitnehmer seinen Aufenthaltsort – innerhalb gewisser Grenzen bzgl. Anfahrtszeit – frei wählen kann. Die Betreuungskraft müsste also das Haus ggf. auch für mehrere Stunden verlassen können.

      Ist das Zeitfenster zwischen Ruf und Arbeitsbeginn aber so eng gesetzt wie in der diskutierten Branche, dass schon ein Verlassen des Hauses für wenige Stunden oftmals eigentlich nicht möglich ist, dann sehe ich da vor Gericht schlechte Karten für die Arbeitgeber.

      Und dann sind da noch das Gesetz zu Ruhezeiten und die ständige Rechtsprechung dazu, die den Neubeginn der Ruhezeit schon bei kurzen Unterbrechungen vorgibt. Das Modell KANN in den meisten Fällen gar nicht legal sein, wie man es auch dreht und wendet.

  • 1. "hochaltrig" ist kein übliches Wort. 2. Die Rechnung, die am Ende 6700 Euro ergibt, ist schlicht Unfug, weil nicht zulässig. 3. Immer wieder dasselbe: Die Unkenntnis ausländischer BürgerInnen wird so lange schamlos ausgenutzt, bis es nicht mehr so weiter geht. War doch bei Tönnies nicht viel anders. Deutschland spielt den Lehrmeister in der EU, die Regierung bringt es aber nicht fertig, dafür zu sorgen, dass dergleichen Schindluder gar nicht möglich wird. Ist Merkel auch völlig egal. Kann mich nicht erinnern, dass sie sich da mal echauffiert hätte.

  • 24h/d Arbeit gibt es nicht, darf nicht und ist auch nicht nötig. Und selbst 8h wird kaum eine Seniorin betüddelt. Wenn der Pflegebedarf zu groß wird, bleibt eh nur das Pflegeheim.

    Aber trotzdem ist es ein Problem, da, wie im Text richtig geschildert, viele Stunden (Freizeit gibt es durchaus) als Bereitschaftsdient verstanden werden. Selbst wenn diese Zeiten nur als 50% Arbeitszeit berechnet werden, ergibt sich daraus, das EINE Person eine andere Person nicht betreuen kann. Dementsprechend können es sich demnächst nur noch für sehr Reiche leisten, ihre Angehörigen zuhause betreuen zu lassen.

    Die Klage auf entgangenen Arbeitslohn ist eigentlich nebensächlich und man dürfte auch keinen Lohn für 24h/d einklagen, weil es schlicht verboten ist, soviel zu arbeiten. Höchstens auf Schadensersatz klagen.