Gerichtshof für Menschenrechte: Freibrief für Entrechtung

EGMR-Urteil bedeutet: Statt Schutzbedürftigkeit zu prüfen, bewegt man Flüchtlinge mit dem Knüppel zur Umkehr

Ein Geflüchteter hält sich an einem Zaun fest

Grenzzaun in Melilla: Um Asyl zu bekommen, muss man die Grenze ohne Einreiseerlaubnis überqueren Foto: Juan Medina/reuters

„Heiße Abschiebung“ heißt es in Spanien, wenn Flüchtlinge und MigrantInnen direkt nach dem Überklettern der Grenzzäune der Enklaven Ceuta und Melilla an das marokkanische Militär übergeben werden – selbstredend, ohne vorher einen Asylantrag stellen zu dürfen.

Aus gutem Grund waren solche unmittelbaren Kollektivabschiebungen in Europa rechtlich tabu. Denn es ist in einer solchen Situation völlig unmöglich festzustellen, ob jemand ein berechtigtes Interesse an Schutz hat oder nicht.

Spanien und andere Länder setzen sich aber seit längerem immer konsequenter über diese Konvention hinweg. Und am Donnerstag bekam das Land dafür höchstrichterlichen Segen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Klage zweier Männer aus Westafrika abgewiesen, die 2014 auf diese Weise von Spanien nach Marokko zurückgeschickt worden waren. Das Argument der RichterInnen: Sie hätten die „legalen Wege, um spanisches Territorium zu erreichen, nicht genutzt“.

Das Urteil ist ein Freibrief für die weitere Entrechtung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen. Denn sei es an den Zäunen von Melilla, in den Wäldern von Bosnien, am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros oder auf dem Mittelmeer: „Legale Wege“ – die gibt es eben nicht. Das ist das Problem.

Ermutigung zur Knüppelpraxis

Wer Asyl will, hat keine andere Wahl, als sich in eine „unrechtmäßige Situation“ zu bringen, jedenfalls juristisch gesehen. Um sein Recht geltend zu machen, muss man die Grenze ohne Einreiseerlaubnis überqueren. Das ist paradox. Aber an dieser Paradoxie tragen die Flüchtlinge keine Schuld. Es ist an immer mehr Grenzen an den Rändern Europas heute eben nicht möglich, einfach zum Wärterhäuschen zu gehen und freundlich um Einlass zum Zwecke der Asyl-Antragstellung zu bitten.

Das Urteil wird von Staaten wie Kroatien, Bulgarien oder Griechenland aufmerksam zur Kenntnis genommen werden. Sie werden es zweifellos als Ermutigung ihrer Praxis verstehen, Flüchtlinge mit dem Knüppel zur Umkehr zu bewegen, statt zu prüfen, ob sie Schutz brauchen.

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Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social

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