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Gericht entscheidet über EnergienetzVerhedderte Netzvergabe

Berlin will die staatliche Kontrolle über das Stromnetz zurück. Seit Jahren gibt es mit dem bisherigen Betreiber Vattenfall juristischen Streit.

Wer verteilt den Strom in Berlin? Diese Frage soll Donnerstag das Kammergericht klären Foto: dpa

Berlin taz | Geht sie am Donnerstag zu Ende, die Berliner Variante des Buchklassikers „Die unendliche Geschichte“? 2014 schon sollte entschieden sein, wer in Berlin fürs Stromnetz zuständig ist – der bisherige Betreiber Vattenfall über seine Tochter Stromnetz Berlin GmbH, irgendwer anders oder das Land Berlin selbst über ein Tochterunternehmen?

Bereits 2011 begann das Verfahren, aber auch neun Jahre später ist die Frage nicht abschließend geklärt – und Vattenfall weiter zuständig. Am Donnerstag verhandelt das Kammergericht darüber, und wenn das Land Berlin wie schon zuvor am Landgericht unterliegt, könnte es vorbei sein mit der auch im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag angestrebten Rekommunalisierung des Stromnetzes.

Schon zu Zeiten der rot-roten Koalition bis 2011 hatte der damalige Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke) auf die anstehende Neuvergabe der Netze von Strom und Gas und ihre Bedeutung hingewiesen. Denn die bilden die notwendige In­frastruktur, über die Strom- und Gaskunden sich vom jeweiligen Anbieter beliefern lassen können, rund 35.000 Kilometer Leitungen oder 7.000 Kilometer Rohre.

Seit der Liberalisierung in den 1990er Jahren ist dafür nicht mehr der Staat zuständig, sondern wer auch immer sich für die nötige Konzession erfolgreich bewirbt. Die Oberaufsicht hat die Bundesnetzagentur in Bonn, die Entscheidung in Berlin trifft die Vergabekammer, die an der Senatsverwaltung für Finanzen angedockt ist, aber dennoch unabhängig sein soll.

Wer sich bei der jeweiligen Ausschreibung durchsetzt und die Konzession für zehn oder zwanzig Jahre bekommt, muss das Netz instand halten, kann aber dafür auch gutes Geld über die Durchleitungsgebühren verdienen – was in diesem Fall bis zu einer abschließenden Entscheidung für Vattenfall zutrifft.

Wie gesellschaftlich gilt auch hier ein Diskriminierungsverbot: Ein Netzbetreiber darf nicht etwa den Transport von Atomstrom oder Strom aus nichtregenerierbaren Quellen verweigern. In der rot-rot-grünen Koalition erhofft man sich trotzdem, über einen quasi staatlichen Betrieb schneller beim ökologischen Umbau der Stadt voranzukommen. Umstritten ist, wie viel Geld der neue Betreiber dem alten für das Netz zahlen muss – beim Berliner Stromnetz reichen die Schätzungen von mehreren 100 Millionen Euro bis zu drei Milliarden.

Im März 2019 hatte die besagte Vergabekammer endlich – nach diversen Verfahrensstopps, einem an zu geringer Teilnahme gescheiterten Volksentscheid und Rügen an den Ausschreibungskriterien – entschieden: Stromnetzbetreiber sollte fortan Berlin Energie sein, ein Landesbetrieb. Auf eine 25,1-prozentige Beteiligung hoffte dabei die auch schon 2012 gegründete Genossenschaft Bürger Energie Berlin. Sie sieht sich dabei als Garant für öffentliche Kontrolle und eine Neuausrichtung.

Gericht vermisste Eignung

Alt-Betreiber Vattenfall aber reagierte mit einer neuen Klage, und im November des vergangenen Jahres urteilte das Landgericht, dass der Zuschlag an Berlin Energie nicht zulässig sei. Der Hauptgrund für die Entscheidung, neben aus Sicht des Gerichts nicht ausreichender Neutralität bei der Vergabe: Es fehle, sinngemäß zusammengefasst, die Eignung zum Netzbetrieb. Das landeseigene Unternehmen hatte seine Bewerbung darauf gestützt, bei einem Zuschlag den Großteil der Mitarbeiter übernehmen zu können, die sich derzeit für Vattenfall um den Netzbetrieb kümmern. „Betriebsübergang“ nennt man das.

Nach Ansicht des Gerichts ist das aber nicht gewährleistet – zugespitzt gesagt hätte Berlin Energie vorab Zusagen von Mitarbeitern einholen müssen, zu solch einem Wechsel bereit zu sein. „Ich hoffe, dass das Kammergericht da einen mehr wettbewerbsorientierten Ansatz vertritt“, sagte am Dienstag in einem Pressegespräch der genossenschaftlichen Bürger Energie Energierechtsspezialist Philipp Boos. Vattenfall-Sprecherin Sandra Kühberger kündigte auf taz-Anfrage an, dass sich das Unternehmen erst am Donnerstag dazu äußern werde.

Falls das Land Berlin erneut unterliegt, geht Anwalt Boos davon aus, dass es zu Gesprächen mit Vattenfall kommt, an denen die Genossenschaft auch beteiligt sein will. Einen Gang in die nächste Instanz gibt es hier nicht. Vattenfall hingegen könnte bei einer Niederlage im eigentlichen Hauptverfahren bis zum Bundesgerichtshof gehen – was die schier unendliche Geschichte weiter verlängern würde.

Ein neues Kapitel entsteht ohnehin parallel bei der Vergabe des Gasnetzes: Die hätte bereits ein Jahr vor dem Stromnetz, nämlich 2013, abgeschlossen sein sollen, hängt aber nach einem Urteil schon seit dem Frühjahr 2019 in der Luft.

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1 Kommentar

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  • "In der rot-rot-grünen Koalition erhofft man sich trotzdem, über einen quasi staatlichen Betrieb schneller beim ökologischen Umbau der Stadt voranzukommen." - Und wie soll das Geschehen? Das Prinzip Hoffnung kann ja keine Strategie sein.