Gentrifizierung in Berlin: Kein Recht auf Wohnen
Stadtteilaktivist Thilo Broschell spricht über die Umwandlung Berlins in Immobilieneigentum. Und er plädiert für für ein Recht auf Wohnen.
Gerade die kleinen, in der Regel unscheinbaren und von den Medien nicht wahrgenommenen Aktivitäten Einzelner sind es, die das schlingernde soziale Boot noch halbwegs vor dem Kentern bewahren. Jedenfalls für den betroffenen Einzelfall. Das soll nicht unter den Tisch fallen. Thilo Brosche war nach einigem Zögern bereit, mir von seinen Erfahrungen und seiner Arbeit als „Stadtteilaktivist“ zu berichten. Die Zurückhaltung ist berechtigt. Man kann damit rechnen, kriminalisiert zu werden, wenn man innerhalb dieser Gruppierungen arbeitet.
Er erzählt:„Das, was ich jetzt mache, ist verbunden mit der Initiative Teilhabe e. V., und die ging 2002/2003 quasi aus den Anfängen der Hartz-IV-Proteste hervor. Ziel war langfristig die Errichtung eines unabhängigen Arbeitslosenzentrums.
Angefangen damit wurde 2004, da gab es im Stadtteilladen Lunte in Neukölln einmal wöchentlich ein Frühstück, bei dem Erwerbslose sich treffen und austauschen konnten, wo auch Beratungsmöglichkeiten geschaffen wurden. Miete mussten wir nicht bezahlen, und das Frühstück wurde kofinanziert. Die Referenten und Referentinnen wurden zwar honoriert, haben aber ihr Honorar fast immer zurückgespendet an den Verein. Inzwischen findet das Frühstück nur noch vierzehntägig statt. Teilweise ist es so, dass Leute, die arbeitslos waren, inzwischen auch noch obdachlos geworden sind, also auf der sozialen Rutsche nach unten gibt es oft kein Halten.
Die gehen dann auch in die Suppenküchen und Kältecafés, die es gibt in der Stadt. Denen, die weiter zum Frühstück kommen, können wir zwar nicht zu einer Wohnung verhelfen, aber wir gehen zum Beispiel mit ihnen zu Einrichtungen, die es dafür gibt. Ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher, der landet bei Obdachlosigkeit in der Regel in einem Übergangswohnheim. Es gibt zwar ‚geschützte‘ Segmente für solche ‚Fälle‘, aber die sind rar. Zum Teil hat man da auch Flüchtlinge untergebracht in den ‚bezahlbaren‘, ‚billigen‘ Wohnungen, und es ist dann ja so, dass immer die eine Gruppe gegen die andere ausgespielt wird.
Die Isolation des Einzelnen
Ein zweites wichtiges Standbein des Vereins war, dass wir Veranstaltungen organisiert haben zu sozialpolitischen Themen innerhalb einer ziemlich breiten Palette. Wir haben versucht eine größere Öffentlichkeit herzustellen, bestimmte Themen, mit denen gerade arme und ausgegrenzte Menschen konfrontiert werden, etwa Psychiatrie, wieder ins Bewusstsein zu rücken. Für den Großteil der linken Gruppierungen spielt das eigentlich heute keine Rolle mehr, ebenso wenig wie Wohnungslosigkeit. Das sind eigentlich nur noch so die Spezialthemen für Leute, die in diesem Bereich arbeiten.
Und wir haben etwas gemacht zur öffentlichen Gesundheitsversorgung. Also es ging uns im Prinzip immer darum, die Betroffenen einerseits umfassend zu informieren über ihre Möglichkeiten und ihre Rechte und auch darüber, wie sie ihre soziale Isolation überwinden könnten. Es geht immer um die Isolation des Einzelnen, der auf sich zurückgeworfen ist und zu dem Schluss kommen soll, er ist selber schuld an seiner Lage. Seine Misere ist seine Privatsache. Dagegen aber muss man aufklären und neue soziale Netze schaffen.
Und wir plädieren natürlich für ein Recht auf Wohnen. Das gibt es in Deutschland nicht, es ist lediglich verankert im Internationalen Menschenrecht, verlangt eine Mindestgarantie für ein menschenwürdiges Leben, es wurde zwar von Deutschland ratifiziert, findet aber keine Anwendung. Hier bei den vielen Wohnungslosen, Einzelpersonen und auch Familien hätte der Staat zu handeln, und er hätte ausreichend billigen Wohnraum bereitzustellen, um zu verhindern, dass Menschen durch stetige Mietpreissteigerungen und Mietschulden in die Wohnungslosigkeit getrieben werden. Es wird ja immer von bezahlbarem Wohnraum geredet. Da muss man sich dann allerdings fragen, was ist das? Für sehr viele Leute sind inzwischen 14 Euro pro Quadratmeter ‚bezahlbar‘, für andere ist ein Quadratmeterpreis von 5,50 Euro kalt schon fast unerschwinglich.
Und das sind inzwischen die Ausnahmewohnungen. Meist draußen in der ‚Platte‘ am Stadtrand. Und für Hartz-IV-Bezieher ist es besonders schwierig, denn die Vermieter wollen die Mieten pünktlich, und es ist bekannt, dass das Amt oft nicht zahlt. Also es gibt Gerichtsurteile, die, obwohl das Amt die Miete nicht pünktlich bezahlte, beschieden haben, dass wegen ausbleibender Miete eine fristlose Kündigung rechtens ist. Und die Vermieter freuen sich, Hartz-IV-Bezieher wohnen in der Regel in Wohnungen, die noch ein relativ niedriges Mietenniveau haben, wenn man diese Mieter dann loswird, kann man bei der Neuvermietung auf jeden Fall verdoppeln, wenn man will. Es lohnt sich also.
Thilo Broschell ist Energieanlagen-Elektroniker a. D. und Stadtteilaktivist in Berlin. Geboren und aufgewachsen in Hamburg/Harburg und Neugraben, dort Besuch der Schule, Mittlere Reife, 1973 Lehre zum Starkstromelektriker/Energieanlagen-Elektroniker. Bundeswehr absolviert. Zugleich Politisierung im Umfeld des Kommunistischen Bundes. Anfang der 80er Jahre beendete er seine Arbeit in der Fabrik und ging für eineinhalb Jahre nach Frankreich zum Vergnügen. Nach der Rückkehr schloss er sich in Hamburg bis zur Wende 1989 der Erwerbslosen-Initiative „Schwarze Katze“ an.
Während die meisten Initiativen, bis hin zur DKP, für ein „Recht auf Arbeit“ plädierten, entwickelte die „Schwarze Katze“ die politische Forderung zu einem „Recht auf Existenz“, die Forderung auf ein Grundeinkommen von 1.500 Euro im Monat. Sie machten Besuche bei rücksichtslosen Sachbearbeitern der Arbeits-und Sozialbehörden und Flugblattaktionen in den Ämtern. Man zählte sich zum autonomen sozialrevolutionären Spektrum. In dieser Zeit gründeten sich viele ähnliche Gruppen, denn es gab erstmals offiziell zwei Millionen Arbeitslose in Westdeutschland (die Zahl verdoppelte sich nach der Wende). Teilnahme am ersten großen Arbeitslosen-Kongress in Frankfurt/Main. Der Versuch, eine gemeinsame Arbeitslosenorganisation zu gründen, scheiterte.
1990 ging er nach Berlin, Umschulung in einem politischen Buchladen. 1996 unerwartete Vaterschaft, dann bis 2004 Arbeit als wirtschaftlicher Leiter in einer Tagesstätte für Wohnungslose. 2004 Krebserkrankung (Speiseröhre). Nach komplizierten Operationen und langwierigen Behandlungen wieder„hergestellt“. Mitarbeit, meist ehrenamtlich, in verschiedenen sozialpolitischen Arbeitslosenprojekten, u. a. „Hängematten“ der „Arbeitsloseninitiative Neukölln“, „Teilhabe e. V.“ Thilo Brosche wurde 1957 geboren, er ist unverheiratet und hat ein Kind, sein Vater war Maschinenbauer bei MAN, die Mutter arbeitete als Hausfrau.
Und das andere Problem ist, dass die Mietobergrenzen eigentlich viel zu gering angesetzt sind, selbst im sogenannten sozialen Wohnungsbau liegen die Mieten ja teilweise schon über dem, was auf dem freien Markt, also bei Bestandsmieten, bezahlt werden muss. Und das führt dann eben auch zu Mieterprotesten und der Gründung von Initiativen. Seit 2011 gibt es zum Beispiel die Initiative Kotti & Co der Mietergemeinschaft am südlichen Kottbusser Tor in Kreuzberg. Die Hochhäuser am Kotti, das ist privatisierter ehemaliger sozialer Wohnungsbau, die Sozialbindung bleibt weiterhin wirksam! Das sind Laufzeiten von 15 bis 20 Jahren, soviel ich weiß, in denen es auch weiterhin Subventionen gibt für den Eigentümer. In diesen Hochhäusern wohnen sehr viele Sozialmieter. Ihre Wohnungen sind im Besitz der ehemaligen GSW, sie heißt jetzt Deutsche Wohnen Konzern, ein börsennotiertes Unternehmen [früher Deutsche Bank]. Der Konzern hat viele dieser einstigen Genossenschaftswohnungen erworben und immer weitere dazugekauft.
Das Prinzip ist ja, dass sie ihren Investoren fette Dividenden verschaffen müssen, sonst gibt es keine guten Prognosen mehr. Das heißt: Wachstum, Mehreinnahmen und Sparen am Aufwand. Und die liegen mit ihren Mieten jetzt über dem, was das Amt bezahlt, wenn man Hartz-IV-bekommt. Die Mieter sparen sich das Geld quasi vom Munde ab, kratzen es irgendwie zusammen, um die Wohnung nicht zu verlieren, denn das sind ja nicht nur die vier Wände, das ist das gesamte soziale Leben dort, mit dem die Leute ganz anders verbunden sind als die Mieter in Charlottenburg oder Dahlem. Auch schon deshalb wollen sie am Kotti wohnen bleiben und dafür kämpfen.
Und wir sind ja ausgegangen vom Verein Teilhabe und seiner Arbeit. Es wurden die verschiedensten Veranstaltungen gemacht zu dem Thema, eine längere Reihe zum Thema Mieten und Mietenpolitik hier in dieser Stadt. Und wir haben immer versucht zu vernetzen, wie man aus gemeinsamen Perspektiven eine gemeinsame politische Stärke entwickeln kann, damit sich das politische Kräfteverhältnis so verändern lässt, dass man daran wirklich nicht mehr vorbeigehen kann. Es ist, ja so, dass sich die SPD als die ‚Mieterpartei‘ verkauft, aber man muss realistisch sagen, dass das, was in den letzten Jahren da verabschiedet worden ist an Gesetzen, das ist schlicht und einfach vollkommen unzureichend und nichts anderes als Placebo.
Es gab zwar dieses Zweckentfremdungsgesetz, aber es lässt sich gar nicht richtig durchsetzen. Der Bezirk Neukölln etwa war zwei Jahre lang überhaupt nicht in der Lage, dem nachzukommen, weil sie kein Personal hatten dafür. Und so ähnlich ist es auch in anderen Bezirken. Das Gesetz ist jetzt irgendwie noch mal ‚nachgebessert‘ worden, aber zum Beispiel dürfen weiterhin – mit dem letzten Urteil – die Zweitwohnungsbesitzer doch irgendwie Feriengäste haben.
Tausende privater Ferienwohnungen
Es hat sich in der Praxis nicht viel geändert. Wenn man den Rechner anschaltet und ‚Ferienwohnungen in Berlin‘ googelt, dann findet man bei den großen Anbietern immer noch Tausende von privaten Ferienwohnungen im Angebot. Es kann also wirklich keine Rede davon sein, dass das Gesetz jetzt gegriffen hätte!
Das gilt auch für die Mietobergrenze, die sie jetzt verabschiedet haben. Das Gesetz ist wieder mit so vielen Ausnahmegenehmigungen versehen, dass es für die meisten Eigentümer kein Problem ist, bei Neuvermietungen dann doch einen entsprechend höheren Mietpreis zu nehmen. Ab einem bestimmten Baujahr fallen Wohnungen raus, modernisierte Wohnungen fallen raus – man muss ein bisschen was chic machen mit wenig Geld, und schon kann die Wohnung zu einem höheren Preis weitervermietet werden. Und das andere große Problem in Berlin ist, die Stadt wächst, es gibt viel Zuzug – aber nicht wie vor der Wende von Studenten, Künstlern usw. – jetzt kommen Besserverdienende, und die können es sich natürlich aussuchen.
Die Politik freut sich über diesen Zuzug, sieht aber nicht, was er zur Folge hat. Die soziale Umwandlung von ‚angesagten‘ Bezirken. Es wird zwar immer davon geredet, dass neu gebaut werden muss, dass die Wohnungen ‚bezahlbar‘ sein sollen, aber die SPD meint damit, dass 20 bis 30 Prozent der neu gebauten Wohnungen für 6,50 Euro pro Quadratmeter zur Verfügung gestellt werden sollen, der Rest ist alles drüber. Selbst die städtischen Wohnungsbaugesellschaften, die ja eigentlich diese Wohnungen vorhalten sollen, haben immer nur ein Drittel, der Rest kann dann auf dem freien Markt angeboten werden, bis hin zu irgendwelchen Stadtvillen, die städtische Wohnungsbaugesellschaften bauen. Folge: akute Wohnungsnot der einkommensschwachen Bevölkerung, weil das untere Preissegment nur sehr unzureichend zur Verfügung gestellt wird bzw. inzwischen ganz fehlt. Keine der Parteien hat ein Konzept für einen neuen sozialen Wohnungsbau, keines, das diesen Namen verdienen würde.
Dieses politische Versagen trifft eben nicht mehr nur Hartz-IV-Bezieher. Es gibt ja eine Menge Leute, die Arbeit ‚haben‘, eine Vollzeitstelle zum Mindestlohn, und denen das Geld dann am Ende trotzdem nicht langt. Die gerade mal etwas über dem Hartz-IV-Satz liegen. Noch schlechter geht es denen, die nur eine halbe Stelle haben, Alleinerziehende usw., die stellen einen großen Teil der ‚Beschäftigten‘, und denen reicht es hinten und vorne nicht. Insgesamt ist es so, dass sich das gesamte Lohnniveau in bestimmten Bereichen, vor allem im Dienstleistungs- und Leiharbeitsbereich, stark nach unten orientiert und nicht nach oben. Und Alte, Kranke und Behinderte, die fallen durch den Rost und werden abgespeist, das war'sdann!
Deutlich sichtbare Konsequenzen
Es ist kaum zu glauben, mit welchen handwerklichen Fehlern heute solche Gesetze zusammengezimmert werden, und das ist noch eine positive Auslegung. Denn die ‚billigen Lohnempfänger‘ sind ja ganz im Sinne der Wirtschaft. Und das alles hat deutlich sichtbare Konsequenzen innerhalb der Gesellschaft, in der immer mehr Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigen können. Besonders schlimm ist das beim Wohnen, denn das ist ja der letzte Schutz, eine Wohnung. Und deshalb haben wir uns auch intensiv mit Wohnungsfragen beschäftigt. den betroffenen Stadtteilen haben sich dann verschiedene Initiativen gegründet, Mietergruppen, es gab auch einzelne Häuser, die als Hausgemeinschaften Probleme bekamen, meist ging es um Modernisierung, Umwandlung usw.
Als immer mehr Zwangsräumungen bekannt wurden, musste dagegen natürlich Widerstand organisiert werden. 2012 hat sich das sehr aktive Bündnis ‚Zwangsräumung verhindern‘ gegründet. Die Vorläuferin hieß ‚Zwangsumzüge verhindern‘. Sie entstand, weil man nach der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 befürchtet hatte, dass viele Leute zwangsweise umziehen müssen in preiswertere Wohnungen.
Das war aber in der ersten Zeit, so etwa bis 2008, nicht der Fall, weil die Ausnahmeregelungen eine Weile noch relativ kulant gehandhabt wurden. Es änderte sich dann massiv, und es begann eine systematische Verdrängung einkommenärmerer Schichten aus dem Innenstadtring an die Ränder. So ab 2009 war es dann nicht nur Kreuzberg, es waren auch Mitte, Tiergarten, Neukölln, Wedding, Treptow. Prenzlauer Berg war damals fast durch, man kann schon sagen, dass bestimmte Gegenden ‚Hartz-IV-frei‘ gemacht wurden.
Zwangsräumung politisiert
Die Situation hatte sich rasant verschlechtert, Mietsteigerungen, härtere Umgangsformen mit den Mietern durch Hausbesitzer, Ämter und Gerichte. Das mündete dann 2011 in der großen unabhängigen Mieterinnen- und Mieterdemonstration, auf der mehrere Tausend Leute gegen die vorherrschende Politik demonstriert haben – kurz vor den Wahlen –, um mal zu zeigen, dass Handlungsbedarf besteht. Aber der ist heute größer denn je! Und so ab 2012 kamen dann die Zwangsräumungen dazu, die von der Öffentlichkeit aber nur wahrgenommen wurden, wenn ein Fall besonders spektakulär verlief und es in die Medien schaffte. In dieser Situation, wie gesagt, entstand das Bündnis Zwangsräumung verhindern, bei dem ich selbst nicht bin, wir haben aber natürlich Kontakt.
Das Bündnis ist ein Zusammenschluss von, man kann sagen, Zwanzig- bis Siebzigjährigen. Teils sind es Betroffene, teils politische Gruppen, Kiez-Initiativen, Nachbarn, Arbeitslose und Arbeitende. Eine der ersten Aufgabe war, Zwangsräumung zu politisieren und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Und dann mussten Formen gefunden werden zur Abwendung der jeweiligen Zwangsräumung, also es ging darum, die ganze Palette zu nutzen, sage ich mal, mit dem Vermieter versuchen zu reden, mit den Ämtern, Begleitung zu den Gerichtsterminen. Blockaden waren dann immer quasi das letzte Mittel der Wahl des Widerstands. Das ist gelungen. Sie organisieren ihn zusammen mit den Betroffenen und planen die jeweiligen Aktionsformen, je nach Lage der Dinge.
Es ist so, dass immer öffentlich aufgerufen wird, wenn wieder Aktivitäten zur Verhinderung von Zwangsräumungen anstehen. Und wenn es notwendig ist, dann kommen eben auch Unterstützer, die blockieren. Ich kann mal am Beispiel der Familie des Malermeisters Ali Gülbol erzählen, wie eine Zwangsräumung so in etwa abläuft und wie die Gegenaktionen. Da war ich auch dabei. Das war 2012 im September. Seine Geschichte zeigt auch sehr gut, was das für ein tiefer Eingriff in die Existenz von Mietern ist, in ihren Wunsch, da beheimatet zu sein und zu bleiben, wo sie leben, ein sicheres Zuhause zu haben in ihrem vertrauten Kiez. Das alles wird zerstört. Das Soziale ist von keiner Relevanz.
Er war damals Anfang 40, hatte Frau und drei Kinder, wohnte seit seinem sechsten Lebensjahr mit den Eltern in einem ziemlich heruntergekommenen Altbau in Kreuzberg in der Lausitzer Straße. Seit Ende der 90er Jahre mit seiner Familie in einer eigenen Wohnung im selben Haus, die er auf eigene Kosten für ein paar Tausend Mark von Grund auf sanierte. Mit dem damaligen Besitzer war mündlich vereinbart, dass im Gegenzug dafür die Miete nicht erhöht wird.
Der Fall Ali Gülbol
Dieses Haus erwarb dann aber der Berliner Unternehmer André Franell 2006 bei einer Zwangsversteigerung, und der hat daraufhin die Mieten erhöht. Das führte zu einem jahrelangen Rechtsstreit durch alle Instanzen, und Ali Gülbol unterlag, er musste die Mieterhöhung nachzahlen für die ganze Zeit, versäumte den Termin, bzw. er hatte nachgezahlt, aber zu spät. Er bekam postwendend die fristlose Kündigung. Und dann war es so, dass Ali Gülbol gesagt hat, er will nicht raus aus seiner Wohnung, freiwillig geht er nicht. Er hat sich ans Bündnis gegen Zwangsräumung gewandt – Betroffene haben oft das Problem, sich öffentlich zu outen, weil ja jeder denkt, sie sind selber schuld.
Aber Ali Gülbol hat den Schritt getan. Die vom Bündnis Zwangsräumung verhindern haben dann verschiedene Lösungsversuche gemacht. Es gab – immer zusammen mit dem Betroffenen – Besuche bei der Firma, die das Haus verwaltet, es gab Begleitung zu den Gerichtsverhandlungen, es gab einen Spaziergang zum Eigentümer, es gab Demos, und als das alles wirkungslos geblieben war und die Räumung anstand, gab es den Aufruf zur Blockade am Termin der Zwangsräumung.
Am Anfang ist es ja so: Alle wollen, dass es möglichst ‚problemlos‘ vonstatten geht, dass der Vermieter doch noch überzeugt werden kann, die Betroffenen da wohnen zu lassen, wenn sie etwas mehr Miete bezahlen oder so. In diesem Fall war es so, dass der Vermieter unerbittlich war und aus reinen Profitgründen darauf bestanden hat, dass die Familie Gülbol zwangsgeräumt wird. Dann wird eben mobilisiert. Der Gerichtsvollzieher – in dem Fall war es eine Gerichtsvollzieherin – meldet sich an zur Räumungsvollstreckung, meist so drei Wochen vorher.
In dieser Zeit muss dann der Widerstand mobilisiert werden. Man muss möglichst viele Leute finden, die sich an diesem Tag ins Treppenhaus, vor die Wohnungstür und auf die Straße vors Haus setzen. Beim ersten Termin – ich glaube, es war im Oktober 2012 – war zuerst der Schlosser da, der immer mitkommt, um gegebenenfalls die Wohnungstür zu öffnen, wenn niemand aufmacht. Dann kam die Gerichtsvollzieherin, hat aber gleich gesehen, dass da kein Durchkommen ist. Sie hat daraufhin mit dem Schlosser den Rückzug angetreten und den ersten Räumungstermin abgesagt.
Großeinsatz der Berliner Polizei
Das war sozusagen eine Premiere, das war das erste Mal in Berlin, dass es gelungen ist, eine Zwangsräumung zu verhindern. Und weil es so erfolgreich verlief, gab es viel Zuspruch, auch die Medien berichteten wohlwollend. Doch dann stand der zweite Räumungstermin an, Anfang Februar 2013 ungefähr. Der verlief vollkommen anders. Da gab es einen Großeinsatz der Berliner Polizei, der war rabiat.“ [Bei der Räumungsvollstreckung hat der Gerichtsvollzieher den Schuldner aus dem Besitz zu setzen und den Gläubiger in den Besitz einzuweisen. Dies kann nach Paragraf 758 III ZPO auch mit Gewalt geschehen. Anm. G.G.]
„Die Aktivisten vom Bündnis Zwangsräumung verhindern und eine größere Unterstützergruppe waren schon am Abend zuvor da und blieben über Nacht im Haus. Es war vom Bündnis seit Wochen mobilisiert worden. Am nächsten Vormittag um 9 Uhr sollte zwangsgeräumt werden. Aber die Polizeiwannen haben sich schon um 6 versammelt, Drängelgitter wurden aufgestellt und die Zugänge zur Lausitzer Straße gesperrt. Die Leute, die ankamen zur solidarischen Unterstützung, kamen nicht mehr zum Haus, die haben sich dann direkt an die Absperrungen gesetzt, um die Gerichtsvollzieherin zu blockieren. Es kamen um die 500 Unterstützer – insgesamt waren es am Ende Tausend Leute. Das war mehr als erwartet.
Es war ja kalt, Bewohner aus den umliegenden Häusern der Straße kamen und haben den Blockierern Tee und Brote gebracht, viele standen auf ihren Balkons und haben Transparente gezeigt, viele haben mit Kochlöffeln auf Kochtöpfe geschlagen und Krach gemacht aus Protest und zur Unterstützung. Es gab Sprechchöre. Es war eine richtig gute Atmosphäre, was das betraf. Es war jedenfalls so laut, dass man kaum noch den Polizeihubschrauber hörte, der unentwegt über der Lausitzer kreiste wie über einem Kriegsschauplatz.
Die Politik handelt nicht
Zu dem Zeitpunkt war die Gerichtsvollzieherin längst im Haus. Sie war schon früh reingeschleust worden. Das Haus und der Zugang zur Wohnung wurden zwar rechtzeitig von vielen Leuten blockiert. Aber was die nicht wussten, war, dass es noch einen anderen Eingang gab von einer Seitenstraße aus. Die Polizei hat angeblich irgendwelche Türen eingetreten und Zäune aufgeschnitten, ist dann von der Seite ins Haus eingedrungen. Sie hat die Blockierer brutal aus dem Treppenhaus geräumt. Dann sind sie hoch und haben die Wohnung letztlich für die Gerichtsvollzieherin zugänglich gemacht.
Die Gerichtsvollzieherin übrigens, die wurde mit einer Polizeiuniform oder Polizeiweste und Polizeimütze ausgestattet – das haben Zeugen beobachtet und sogar fotografiert –, und so wurde sie über Seitenstraße und Hintereingang geleitet nach oben. Zur Wohnung. Dort hat sie dann ihre Amtshandlung durchgeführt, sich die Wohnungsschlüssel aushändigen lassen, die Wohnung versiegelt. Ali Gülbol und seine Familie standen vor dem Nichts. Hätten sie nicht in die Wohnung der Eltern im selben Haus ziehen können, wären sie obdachlos gewesen. Der Mieter ‚hat keinen Widerstand geleistet‘, hieß es später.
Als die blockierenden Unterstützer draußen erfahren haben, dass die Räumung längst gelaufen ist, hat sie natürlich die Wut gepackt, und das haben die auch ausgedrückt. Also, sie hatten die Bereitschaft, diesem Unrecht auch körperlich was entgegenzusetzen, kann man sagen. Es kam zum Einsatz von Pfefferspray und Knüppeln durch die Polizei, mehrere Blockierer wurden verletzt, einige festgenommen. Die Leute waren bunt gemischt, es war nicht so, dass da vor allem die stadtbekannten Politszeneleute gewesen wären. Und es kamen spontan vollkommen außenstehende Leute dazu, Autos, die vorbeifuhren, haben Hupkonzerte gemacht, viele haben gerufen: ‚Richtig so!!‘ Es war zwar eine bittere Niederlage, aber es hat dem Bündnis Popularität verschafft, und die Medien berichteten ausführlich.
Seither gab es viele ähnliche Aktionen. Einige Zwangsräumungen konnten verhindert werden, andere nicht. Die Politik handelt nicht oder nur durch die Niederschlagung des Widerstands. Sie sieht zu, ohne zu handeln. Derweil kippen die Verhältnisse in der Stadt immer mehr. Das ist ein Skandal, dass es kein Recht auf Wohnen gibt bei uns.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“