Genozidforscher über Gaza: „Jeder Genozid ist anders“
Der Historiker Omer Bartov über den Vorwurf, Israel begehe in Gaza einen Völkermord, über Nazi-Vergleiche und über Deutschlands Rolle in dem Konflikt.
wochentaz: Herr Bartov, Südafrika klagt Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozids an. Was halten Sie davon?
Omer Bartov: Ich sehe das positiv. Ein internationales Gremium aus angesehenen Juristinnen und Juristen aus unterschiedlichen Ländern wird darüber beraten – und zwar auf Grundlage der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Südafrika hat das Gericht außerdem gebeten, Maßnahmen anzuordnen, um die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen zu schützen. Das könnte helfen, die humanitäre Katastrophe zu beenden, die wir dort gerade erleben.
Wie unabhängig ist das Gericht?
Es gehört zur Struktur der Vereinten Nationen. Die Idee ist, dass es alle Regionen der Welt vertritt, nicht nur die Großmächte oder den Westen. Auch wenn die Richter Koryphäen sind und ihren eigenen Kopf haben, sind sie doch mit den Staaten verbunden, aus denen sie stammen. Deren Interessen sind nicht immer transparent oder konsistent. Man wird sehen.
Was hätte es für Folgen, wenn das Gericht Israel wegen Völkermords verurteilt?
Omer Bartov, ist israelischer Historiker und gehört zu den weltweit führenden Holocaust-Forschern. Er lehrt an der Brown University in Providence, Rhode Island, USA. Im August gehörte er zu den Verfassern der Petition „The Elephant in the Room“, die ein Ende der israelischen Besatzung forderte und von mehr als 2800 meist jüdischen und israelischen Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, darunter Saul Friedländer, Meron Mendel und Eva Illouz.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen müsste sich damit befassen, und zumindest die USA würden wahrscheinlich ein Veto einlegen. Aber viele Länder – auch die USA – haben Gesetze, die es ihnen verbieten, Waffen und Munition an Länder zu liefern, die im Verdacht stehen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gar einen Genozid zu begehen. Das würde den Druck erhöhen, zu einer Lösung der aktuellen Krise zu kommen, und das wäre eine gute Sache.
Für westliche Regierungen wäre ein solches Urteil sehr peinlich.
Peinlich ist, dass der Westen nichts gegen die humanitäre Katastrophe unternimmt, die sich vor unseren Augen ereignet. Über 24 000 Menschen wurden dort bereits getötet, mindestens zwei Drittel von ihnen Zivilisten, die Hälfte davon Kinder. Die Tötungsrate ist beispiellos, und es gibt wenig Druck auf Israel, um den Konflikt zu beenden.
Sie haben schon sehr früh vor der Gefahr eines Genozids in Gaza gewarnt. Warum?
Zahlreiche hochrangige israelische Politiker – der Premier und der Präsident, viele Minister und Generäle –, haben Dinge gesagt, die im höchsten Maße alarmierend waren. Es wurde dazu aufgerufen, Gaza auszulöschen und es dem Erdboden gleichzumachen. Wenn man solch eine entmenschlichende Sprache aus dem Mund von politischen Anführern und Menschen mit Befehlsgewalt vernimmt, dann hat das Konsequenzen.
Inwiefern?
Es stachelt Menschen auf, insbesondere Soldaten. Viele der hunderttausend Reservisten, die zu den Waffen gerufen wurden, dürften Wähler von Natanjahu, Smotrich und Ben Gvir sein. Wenn sie diese Sprache hören, dann haben sie das Gefühl, dass es keine roten Linien gibt. Das führt dann dazu, dass drei Geiseln erschossen wurden, die eine weiße Fahne geschwenkt haben. Der israelischen Öffentlichkeit ist das nur aufgefallen, weil es drei Geiseln waren und nicht drei Palästinenser. Was mich außerdem besorgt hat waren die massiven und wahllosen Bombardierungen. Jetzt ist noch viel klarer, dass hier eine Strategie umgesetzt wurde, die vermutlich schon vor dem 7. Oktober erdacht wurde.
Welche Strategie meinen Sie?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Man sagt der Bevölkerung, sie solle ein Gebiet verlassen, und gibt ihnen dafür eine gewisse Frist. Wenn die verstrichen ist, betrachtet man jede Person, die man dort noch antrifft, als potentiellen Kämpfer – egal, um wen es sich handelt. Man schickt Flugzeuge, Panzer und Bulldozer und setzt auf massiven Artilleriebeschuss und massive Bombardierungen, bevor Bodentruppen reingehen, und sprengt Schulen, Moscheen, Krankenhäuser und andere öffentliche Gebäude in die Luft. Es gibt inzwischen viele Bilder, die das Ausmaß der Zerstörung zeigen. Im Ergebnis wurden 1,9 Millionen Menschen vertrieben und die Gegend zerstört, aus der sie stammten. Sie können nicht mehr dorthin zurückkehren. Das, was ich damals befürchtet hatte, ist inzwischen eingetreten.
Ihr Kollege Raz Segal hat Israels Vorgehen in Gaza als „Lehrbuch-Beispiel für einen Genozid“ bezeichnet. Sie sind vorsichtiger?
Um einen Genozid zu beweisen muss man die entsprechende Absicht nachweisen. Das ist das Schwierigste. In diesem Fall wurde offen gesagt, dass man beabsichtigt, die Gegend dem Erdboden gleichzumachen und die Menschen zu vertreiben. Entscheidend ist jetzt die Frage: Wollten sie Gaza – oder zumindest Teile davon – für immer ethnisch säubern? Viele in Israel sagen jetzt, man sollte die Bevölkerung ermutigen, Gaza zu verlassen – auf den Sinai, nach Kanada oder wohin auch immer. Sollte das passieren könnte man zu dem Schluss kommen, dass es von Anfang an die Absicht war, die Bevölkerung von dort zu vertreiben. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und könnte als Absicht gewertet werden, „eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, wie es in der UN-Konvention heißt, und damit als Genozid.
Warum?
Wenn man die Bevölkerung aus Gaza vertreibt, zerstört man sie als Gruppe. An diesem Punkt sind wir jetzt. Niemand möchte zwei Millionen Menschen aufnehmen, Ägypten hat große Angst davor. Aber Israel könnte es dazu zwingen, wenn die Weltgemeinschaft jetzt nicht einschreitet. Die Frage ist: Kommt jetzt eine neue Stufe? Das hängt davon ab, was jetzt passiert.
Was befürchten Sie?
Wenn die israelische Armee in den Süden reingeht, weil die Hamas dort noch aktiv ist, wird sie noch mehr Zivilisten töten. Wenn nicht, war nicht nur der 7.Oktober ein Fiasko, sondern auch dieser Krieg. Denn Israels Regierung war bisher nicht in der Lage, ihre zwei erklärten Ziele zu erreichen: Sie hat weder die Hamas zerstört noch die Geiseln befreit. Die einzigen Geiseln, die befreit wurden, kamen durch Verhandlungen während eines Waffenstillstands frei. Die anderen sind nicht zurück, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie befreit werden können.
Der Norden des Gazastreifens wurde ethnisch gesäubert. Das ist noch kein Genozid?
Gewaltsame Vertreibung ist etwas anderes als ein Genozid. Historisch hängen beide Phänomene aber eng zusammen – denken Sie an den deutschen Genozid an den Herero in Deutsch-Südwestafrika, oder an den Genozid an den Armeniern im osmanischen Reich. Beide wurden in die Wüste getrieben, viele sind dort gestorben. Es gibt meiner Meinung nach ausreichend Anzeichen dafür, dass die israelische Armee in Gaza in Kriegsverbrechen verstrickt ist und vermutlich auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Heute sehen wir zu, dass 85 Prozent der Bevölkerung von Gaza vertrieben wurden, viele von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen und Hunger und Durst leiden. Wir wissen nicht, was die langfristigen Auswirkungen durch Krankheiten und Seuchen sein werden. Deswegen stehen wir kurz vor einem Abgrund, der als Genozid beschrieben werden kann.
In Deutschland fürchten manche, der Holocaust werde relativiert, wenn man Israel einen Genozid vorwirft. Sie nicht?
Jeder Genozid hat Aspekte, die ihn von anderen unterscheiden. Der deutsche Völkermord an den Juden Europas war einzigartig, weil er sich über einen ganzen Kontinent erstreckte und es industrielle Vernichtungslager gab. Aber in manchen Aspekten ähnelte er anderen Genoziden, etwa in Ruanda oder in Bosnien. So gesehen, war der Holocaust nicht einzigartig. Darüber habe ich ein ganzes Buch geschrieben.
Sie fürchten keinen Missbrauch der Vergangenheit?
Die Erinnerung an den Holocaust wird von allen Seiten missbraucht. Ich verfolge die öffentlichen Debatten in Israel, da wird die Hamas ständig mit Nazis verglichen. Jeder nutzt oder meidet solche Begriffe aus unterschiedlichen Gründen. Was Deutschland tun sollte ist, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wenn die israelische Armee an Kriegsverbrechen beteiligt ist – und es gibt genügend Fakten, die das bestätigen – dann sollte man darüber sprechen. Man kann nicht sagen: Weil die Wehrmacht Kriegsverbrechen begangen hat, können wir Israel nicht kritisieren. Das erinnert mich an das Argument, dass man aufgrund der deutschen Verbrechen an Russland Putins Krieg in der Ukraine nicht kritisieren dürfe. Das macht keinen Sinn.
Welche Lehren sollte Deutschland aus der Vergangenheit ziehen?
Aus der Vergangenheit lernt man, dass man anderen Staaten oder Organisationen nicht erlauben sollte, mit solchen Verbrechen davonzukommen, indem man dazu schweigt. Deutschland sollte sich wie die Großmacht verhalten, die es ist. Es spricht nichts dagegen, dass sich Deutschland als Freund und Verbündeter Israels sieht. Aber dann sollte es mit Nachdruck daran arbeiten, dass seine Regierung einen anderen Kurs einschlägt.
Die amerikanische Publizistin Masha Gessen hat die Lage in Gaza mit dem Warschauer Ghetto verglichen, in Deutschland wurde sie dafür scharf kritisiert. Wie sehen Sie das?
Ich mochte ihren Artikel sehr, auch wenn ich diesen einen Satz nicht den klügsten fand. Ich denke nicht, dass sich Gaza mit dem Warschauer Ghetto vergleichen lässt. Aber Gaza ist ein Alptraum, das steht außer Frage. Ich habe in den 1970erjahren als Soldat in Gaza gedient. Damals lebten nur 350 000 Menschen dort, und es war schon damals kein schöner Ort. Aber ich mag keine Nazi-Vergleiche, weil die Nazis dann immer gewinnen. Denn im Vergleich sieht alles nicht ganz so schlimm aus, selbst wenn es absolut grauenhaft ist.
In Israel sind Nazi-Vergleiche verbreitet. Schon PLO-Chef Arafat wurde mit Hitler verglichen, heute werden der Iran oder die Hamas mit Nazis gleichgesetzt.
Das ist seit den 1980er-Jahren schlimmer geworden. Seit Netanjahu an die Macht kam, hat er seine Gegner immer wieder mit Nazi-Vergleichen überzogen – meistens Palästinenser, aber auch den Iran. Das heißt, du hast freie Hand. Denn was kann man mit Nazis tun? Du musst sie töten, bevor sie dich töten können. Mittlerweile ist es in Israel unmöglich geworden, außerhalb dieses Rahmens zu denken. Bis zu Rabins Ermordung war es noch möglich, sich eine andere Art und Weise vorzustellen, mit der Situation umzugehen. Heute dreht sich alles nur noch um die Frage: sie oder wir. Das ist fatal. Es gibt sieben Millionen Palästinenser und sieben Millionen Juden, die auf diesem Territorium leben. Keiner möchte das Land verlassen. Man muss einen politischen Kompromiss finden. Aber dieses Denken macht es unmöglich, einen Kompromiss zu finden.
Triggern diese Nazi-Vergleiche auch Ängste vor einer Vernichtung?
Seit dem 7. Oktober hat sich die Atmosphäre in Israel komplett geändert, und es gibt ein starkes Gefühl der Verunsicherung. Das hat mit dem kolossalen Versagen der israelischen Armee zu tun. Die Hamas hat einen Teil des Landes übernommen und schreckliche Verbrechen begangen, und die Armee ist für Stunden nicht aufgetaucht. Jetzt wird der Krieg nicht gewonnen, die Verluste nehmen zu, eine zweite Front wird eröffnet und es ist kein Ende in Sicht. Diese Regierung profitiert davon, und sie verspricht nur mehr Gewalt und noch mehr Tote.
Hatte der Angriff der Hamas auch eine genozidale Botschaft? Manche sprechen vom größten Massaker an Juden seit dem Holocaust.
Es war ein großer terroristischer Angriff, ein Kriegsverbrechen, und möglicherweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn man es mit der Charta der Hamas von 1988 in Verbindung setzt, kann man argumentierten, dass es sich um eine genozidale Tat handelt. Es wäre gut, wenn das vor einem internationalen Gericht verhandelt würde. Aber ich halte es für falsch, es mit einem Pogrom zu vergleichen. Ein Pogrom ist Gewalt, die sich gegen eine Minderheit richtet. Solche Formulierungen dienen nur dazu, bestimmte Gefühle hervorzurufen.
Welchen Einfluss hatte dieses Massaker auf die Psyche von Jüdinnen und Juden weltweit?
Wenn man den israelischen Medien folgt – was ich derzeit mehr tue, als mir lieb ist – wird der Horror des 7. Oktober kontinuierlich wiederholt. Israelische TV-Zuschauer sehen praktisch nichts von dem, was der Bevölkerung in Gaza widerfährt. Stattdessen erfahren sie jeden Tag mehr über das, was am 7. Oktober passiert ist, hören Augenzeugenberichte und sehen Interviews. Das Gefühl, Opfer und verwundbar zu sein, wird dadurch ständig neu befeuert – und damit auch der Wunsch nach Rache und Vergeltung.
Die meisten Deutschen sprechen kein Hebräisch und verstehen nicht, was Netanjahu meint, wenn er von Amalek spricht. Was hat es damit auf sich?
Als die Israeliten durch den Sinai wanderten, wurden sie von einem Volk namens Amalek angegriffen. Das ist eine biblische Geschichte. Wenn man in Israel sagt, „Erinnere dich, was Amalek dir angetan hat“, dann ist das wie ein Aufruf, den Gegner auszulöschen. Netanjahu ist ein gebildeter Mann: Er weiß genau, was er damit auslöst.
Könnte ihm das in Den Haag zum Verhängnis werden?
Das ist nur eines aus einer ganzen Reihe von Aussagen von Netanjahu und anderen, die im Kern genozidal sind. Vor Gericht hat Israel argumentiert, dass das nur in der Hitze des Moments so dahingesagt worden wäre und keine Strategie dahinterstehe. Aber es kann als Aufruf zum Genozid und als Hetze verstanden werden. Auch Hetze ist nach internationalem Recht ein Verbrechen, das sollte man nicht relativieren und kleinreden.
Welche Wirkung hat der ständige Bezug auf die Pogrome der Vergangenheit und den Holocaust? Ist das nicht retraumatisierend?
Es führt dazu, dass man in Israel die eigene Stärke und die eigenen Schwäche verkennt. In Israel leiden wir an beidem: einerseits fürchten wir jeden Tag, einem neuen Holocaust zum Opfer zu fallen. Andererseits fühlen wir uns so mächtig, dass wir glauben, keinerlei Kompromisse eingehen zu müssen. Das tun wir nur, wenn wir dazu gezwungen werden. So, wie am 6. Oktober 1973, als uns die ägyptische Armee angriff. Bis dahin weigerte sich Israel, über eine Rückgabe des Sinai auch nur zu sprechen. Viele meiner Freunde sind damals im Jom-Kippur-Krieg gestorben. Erst danach war Israel bereit, den Sinai im Gegenzug für einen Friedensvertrag zurückzugeben.
Sie sehen Parallelen zum arabischen Angriff von 1973?
Ja, denn wir stehen jetzt an einem ähnlichen Wendepunkt. Bis zum 7.Oktober 2023 glaubte Israel, es müsse mit den Palästinensern keinen Frieden schließen. Wir können das Land behalten und es besiedeln. Wir sind stark genug, was sollen sie uns schon tun? Aber nachdem sie uns angegriffen haben, fühlen wir uns plötzlich in unserer Existenz bedroht. Dabei wird die Hamas diesen Krieg nicht gewinnen. Nur: Israel kann diesen Krieg auch nicht gewinnen, zumindest nicht rein militärisch. Es muss eine politische Lösung finden. Wenn nicht, wird Israel ein Paria-Staat werden.
Wie meinen Sie das?
Wenn Israel seinen Kurs nicht ändert, wird es sich zunehmend isolieren. Langfristig wird sich auch die Politik der USA ändern. Kein demokratischer Präsident wird je wieder so an der Seite Israels stehen wie Joe Biden. Die Leute, die Biden gewählt haben, gehen jetzt gegen Israel auf die Straße. Er verliert seinen liberalen Flügel, die jungen Leute.
Wird Trump Israel weiter unterstützen, sollte er wieder zum Präsidenten gewählt werden?
Trump ist ein Mann ohne Eigenschaften. Er mag Netanjahu nicht mehr, weil er Biden zu seiner Wahl gratuliert hat. Das hat er ihm nicht verziehen, so etwas vergisst er nicht. Ich denke, sein Impuls wird sein, die Region sich selbst zu überlassen nach dem Motto: Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen. Das wäre sehr gefährlich, nicht nur für den Nahen Osten, sondern für den Rest der Welt. Der Einzige, der Grund hätte, eine Flasche Champagner zu öffnen, sollte Trump noch einmal gewählt werden, wäre Wladimir Putin.
Hat Südafrikas Genozid-Klage schon einen Effekt? Netanyahu hat kürzlich erklärt, Israel wolle weder den Gazastreifen dauerhaft besetzen noch die Zivilbevölkerung vertreiben. Genau das hatten Minister seiner Regierung zuvor vorgeschlagen.
Es gibt einen Riss in der Regierung. Die Armee würde im Gazastreifen gerne ein ähnliches System errichten, wie es in der Westbank existiert: eine palästinensische Verwaltung, die sich um den Alltagsfragen kümmert, aber die israelische Armee behält letztlich die Kontrolle und kann jederzeit eingreifen und Menschen verhaften oder töten, wenn sie es für nötig hält. Ob das realistisch ist, ist die andere Frage. Andere in der Regierung würden die Gunst der Stunde gerne nutzen, um in Gaza wieder Siedlungen zu errichten. Einige Soldaten und Reservisten machen Videos davon, wie sie Lieder singen, Flaggen schwenken und sich freuen, Gaza in Besitz nehmen zu können. Kann Netanjahu die Quadratur des Kreises gelingen? Ich glaube nicht. Aber er weiß, dass er nur an der Macht bleiben kann, wenn der Krieg noch möglichst lange weiter geht. Alles andere ist ihm egal.
Wer kann ihn stoppen?
Nur die USA können diesen Konflikt lösen. Da versagt die Biden-Regierung bisher. Sie braucht einen klaren Plan, wie dieser Krieg beendet werden kann und was anschließend passieren soll. Dafür muss sie ihre wichtigsten Verbündeten an einen Tisch kriegen: Deutschland, Großbritannien, Frankreich. Diesen Plan müssen sie dann gemeinsam Israel und den Palästinensern vorlegen und ihnen sagen: wenn ihr diesen Plan ablehnt, seid ihr auf euch alleine gestellt. Israel kann sich das nicht leisten. Es reizt seine Möglichkeiten aus, aber es hat wenig in der Hinterhand.
Die deutsche Regierung macht sich für eine Zwei-Staaten-Lösung stark. Ist das realistisch?
Die ursprüngliche Zwei-Staaten-Lösung ist unrealistisch geworden, weil inzwischen mehr als eine halbe Million Siedler in der Westbank leben. Sie von dort abzuziehen würde in Israel zu einem Bürgerkrieg führen. Auf der anderen Seite erheben beide Gruppen den Anspruch auf nationale Selbstbestimmung und darauf, dass ihrer jeweilige Diaspora in ihren eigenen Staat zurückkehren können. Deshalb bin ich von der Idee einer Konföderation überzeugt.
Wie sähe die aus?
Eine Konföderation würde bedeuten, dass es zwei Staaten gibt, mehr oder weniger in den Grenzen von 1967. Aber es gäbe einen Unterschied zwischen Staatsbürgerschaft und Wohnort – das hieße, man kann Staatsbürger eines Landes sein, aber in einem anderen leben. Ein bisschen wie in der EU, wo man als Deutscher in einem anderen Land leben aber in Deutschland wählen kann. Siedler könnten in der Westbank bleiben und für das israelische Parlament wählen, aber sie würden den Gesetzen eines palästinensischen Staates unterliegen. Und ein Palästinenser aus New York könnte nach Nablus oder sogar nach Haifa ziehen und wäre den Gesetzen des jeweiligen Staats unterworfen, könnte als palästinensischer Staatsbürger das Parlament in Ramallah wählen. Interessanterweise hat diese Idee sowohl Anhänger untrer Siedlern als auch unter Palästinensern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind