Gendergerechte Medizin: Testosteron kann tödlich sein

Die Immunologin Julie Sellau forscht zur Rolle von Testosteron bei einer Parasitenerkrankung. Damit füllt sie eine Lücke in der Medizin.

Ein Vater sitzt mit seinem Kind am Strand

Nach der Vaterschaft sinkt der Testosteronspiegel – medizinisch gesehen hat das Vor- und Nachteile Foto: Christian Charisius/dpa

HAMBURG taz |Junge Frauen bekommen keine Herzinfarkte, Männer dafür keine Depressionen – solche gefährlichen Vorurteile wirken teilweise bis heute. Die sogenannte geschlechtergerechte Medizin will das ändern. Oder genauer: Sie will untersuchen, welche medizinisch relevanten Unterschiede tatsächlich zwischen den Geschlechtern existieren. Denn Unterschiede gibt es – und die reichen bis in die Ebene einzelner Zellen.

Im Bereich der geschlechtergerechten Medizin forscht auch Julie Sellau. Die Infektionsimmunologin hat mit ihrem Team vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg herausgefunden, warum bestimmte Infektionen mit Parasiten bei Männern schwererwiegende Folgen haben: Das Testosteron ist schuld. Im Dezember wurde die Immunologin für diese Erkenntnis mit dem Werner-Otto-Preis zur Förderung medizinischer Forschung ausgezeichnet.

Gegenstand ihrer Untersuchung war der Amöbenleberabs­zess, der durch die Ruhramöbe ausgelöst werden kann. Hierzulande hat die Diagnose Seltenheitswert, aber vor allem in tropischen Entwicklungsländern sieht das anders aus: Ungefähr 50 Millionen Menschen erkranken pro Jahr an der Amöbenruhr; etwa 100.000 Menschen sterben jährlich daran. Die meisten von ihnen sind Männer.

Den einzelligen Parasiten nimmt man zum Beispiel über dreckiges Wasser auf. Meist schafft es die Ruhramöbe nur bis in den Darm. Wenn sie aber über die Darmwand ins Blut gelangt, kann sie auch in die Leber eindringen. Dort bildet der Körper Eiter um die Amöbe herum. Er versucht so, den Parasiten abzukapseln, ein Abszess entsteht. Bis hierher eine normale Reaktion des Körpers.

Neue Heilungschancen

Nun kann das Immunsystem aber auch überreagieren: Es greift dann auch das umliegende Gewebe an, der Abszess wächst und wird zum Problem. Obwohl laut einer Studie mit Daten aus Zentralvietnam mehr Frauen mit dem Parasiten infiziert sind, sind 76 Prozent der Kranken mit Leberabszess erwachsene Männer.

Woran liegt das? Fände man die Ursachen, so könnte das auch die Heilungschancen erhöhen – und das nicht nur bei der Amöbenruhr, sondern womöglich auch bei anderen Krankheiten. Julie Sellau hat an Mäusen nach den Ursachen für die unterschiedlichen Verläufe geforscht. Den Nagern, genauer gesagt der Labormausart C57BL/6, auch Black Six genannt, wurden dafür Ruhramöben in die Leber gespritzt. Für die Mäuse sind Leberabzesse und der Parasit laut Sellau nicht gefährlich. Sie können ihn schnell wieder abbauen.

Das Ergebnis aber war auch bei den Mäusen deutlich: „Männliche Mäuse entwickeln im Labor größere Amöbenleberabszesse als weibliche“, erklärt Sellau gegenüber der taz. Die Tiere waren damit geeignete Versuchsobjekte, um den Ursachen auf den Grund zu kommen. Die For­sche­r*in­nen testeten den Parasiten dafür auch an kastrierten Mäusemännern. Das Ergebnis: Bei ihnen blieben die Abszesse klein. Ein recht klarer Hinweis darauf, dass männliche Hormone, also Androgene, eine Rolle spielen.

In diese Richtung wiesen auch Erfahrungen, die es bei Transmännern in Hormonbehandlung gab: Auch bei ihnen hat eine Infektion mit der Ruhramöbe stärkere Folgen. Die For­sche­r*in­nen rund um Sellau testeten den Parasiten deshalb auch an den Zellen von Transmännern, die Testosteron im Rahmen ihrer Geschlechtsangleichung nahmen. Die Zellen reagierten stärker. „So konnten wir isolieren, dass Testosteron verantwortlich für diese Reaktion ist“, sagt Sellau.

Gefährliche Botenstoffe

Für das, was dabei passiert, sind die Monozyten entscheidend. Die gehören zu den weißen Blutkörperchen und sind die größten Zellen im menschlichen Blut. Sie reagieren auf Bakterien, Viren und Krankheitserreger und nehmen sie in ihrem Inneren auf – sie „fressen“ sie. Anders als die etwas kleineren B-Zellen und T-Zellen müssen sie nicht erst lernen, was ein Fremdkörper ist, sondern gehören zum angeborenen Immunsystem. In ihrem Abwehrverhalten gehen sie dabei aber relativ unspezifisch vor.

Doch unter dem Einfluss von Testosteron senden sie laut Sellaus Forschung verstärkt bestimmte Botenstoffe aus: Diese Botenstoffe können zur Zerstörung des Lebergewebes führen. Und die Botenstoffe locken weitere Monozyten an den Ort der Infektion, die die Leber weiter beschädigen. „Wir haben herausgefunden, dass Monozyten durch Androgene aktiviert werden können. Das ist die Kernaussage“, fasst Sellau zusammen.

Eine ähnliche Reaktion des Immunsystems vermuten For­sche­r*in­nen auch hinter den höheren Todeszahlen von Männern durch das Coronavirus. Deshalb sagt Julie Sellau: „Die Thematik berührt viele Menschen.“ Daraus ließen sich in Zukunft vielleicht neue Therapien entwickeln und die Behandlungen können besser an die Pa­ti­en­t*in­nen angepasst werden.

Übrigens hat Testosteron nicht nur negative Auswirkungen: 2020 war Sellau an einer Studie beteiligt, die positive Effekte des Sexualhormons auf den Grippeverlauf nachgewiesen hat: Weibliche Mäuse, die mit H1N1 infiziert waren, konnten dabei durch die Gabe von Testosteron vor dem Tod gerettet werden.

Eine schnelle unspezifische Immunantwort kann also auch Vorteile haben. Es braucht noch mehr geschlechtersensible Forschung, um herauszufinden, wie geschlechtsspezifische Hormone wirken.

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