Geiselnahme in Synagoge in Texas: Ohne Selbstschutz geht es nicht
Jüdinnen und Juden wachsen mit dem Bewusstsein auf, nicht sicher zu sein. Texas hat erneut gezeigt, dass sie sich selbst schützen müssen.
M ir geht dieser Gegenstand nicht mehr aus dem Kopf. Ein Stuhl aus der Synagoge der Congregation Beth Israel in Texas. Dieser Stuhl half den Geiseln, unversehrt aus ihrer Synagoge zu fliehen. Vergangenes Wochenende hatte dort ein Täter vier Menschen nahezu elf Stunden festgehalten. Ursprünglich hieß es, Spezialkräfte seien eingedrungen und hätten die Geiseln befreit. So kann man das eigene Versagen natürlich auch umdeuten. Nein, es war Rabbi Charlie Cytron-Walker, der einen Stuhl auf den Geiselnehmer warf.
Was immer er tun müsse, um rauszukommen, solle er tun. Das hatte Cytron-Walker in einem Sicherheitstraining gelernt, das speziell für jüdische Institutionen angeboten wird. Cytron-Walker war auf so eine Ausnahmesituation vorbereitet. Zum Glück. Er hatte im Kopf: Ruhig bleiben, mit dem Geiselnehmer sprechen, den Ausgang nicht aus den Augen verlieren.
Ich kann nicht aufhören, mir diese Frage zu stellen: Wie wäre die Geiselnahme ausgegangen, hätte es nicht den Mut und das Wissen zur Selbstverteidigung gegeben?
In Halle war es 2019 eine Tür zur Synagoge, die zum Symbol des Überlebens geworden ist. Einundfünfzig Menschen überlebten, weil der rechtsextreme Attentäter diese Tür nicht aufschießen konnte. Nur zur Erinnerung: Diese Tür musste mit privaten Spenden aus New York bezahlt werden, weil der deutsche Staat nicht zahlen wollte. Die jüdische Gemeinde kümmerte sich um sich selbst – und das rettete Leben. Erkennen Sie die Parallele?
Jüdinnen und Juden weltweit wachsen mit dem Bewusstsein auf, nicht sicher zu sein. Und im Fall einer Gefahr nicht ausreichend geschützt zu werden. Also schützen sie sich selbst. Mit Panzerglas, Metalldetektoren an Eingängen und mit bewaffneten Sicherheitsleuten vor jüdischen Schulen, Kindergärten und Synagogen. Dieses Sicherheitssystem ist nicht zum Spaß da. Das hat die antisemitische Tat von Texas einmal mehr bewiesen.
Die erste Forderung des Geiselnehmers lautete, mit der Leiterin der Zentralsynagoge in New York City zu sprechen. Er glaubte ernsthaft, sie könnte die inhaftierte Terroristin und Islamistin Aafia Siddiqui befreien. Sie freizupressen, war mutmaßlich das Ziel seiner Tat. „Er dachte, er könnte in eine Synagoge kommen, und wir könnten mit dem ‚Oberrabbiner von Amerika‘ telefonieren, und er würde bekommen, was er benötigte.“ Das sagte Cytron-Walker einem US-Medium. Klar, Juden regieren die Welt. Sie ziehen die Strippen im Hintergrund, sind eine Übermacht. Da hatte einer das Einmaleins antisemitischer Verschwörungen gelernt.
Ein Mann marschierte also mit einer Waffe am Sabbat in eine Synagoge, um eine Islamistin freizupressen. Und trotzdem fiel einem FBI-Beamten unmittelbar nach der Freilassung der Geiseln nichts besseres ein, als vor die Presse zu treten und zu behaupten, dass diese Tat nichts mit Antisemitismus zu tun habe. Stattdessen sagte er: Der Geiselnehmer sei „ausschließlich auf ein Thema fokussiert“ gewesen, das „nichts Spezifisches mit der jüdischen Gemeinschaft zu tun hat“.
Wie sollen sich Jüdinnen und Juden sicher und ernst genommen fühlen, wenn selbst im offensichtlichsten Fall Antisemitismus nicht gesehen wird? Wie deutlich muss ein Geiselnehmer noch werden, damit seine Tat im Nachhinein richtig kategorisiert wird? Muss er mit einem Schild um den Hals in eine Synagoge marschieren, auf dem sinngemäß steht: „Für den Fall, dass ihr mich später abknallt, meine Tat war definitiv antisemitisch motiviert.“?
Eine Woche ist die Geiselnahme von Texas her und ich schaue mir Videos einer Krav-Maga-Schule in Berlin an. Einen Moment lang denke ich: Ein wenig Ahnung von Selbstverteidigung zu haben, schadet vielleicht nicht.
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