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Gehirnerschütterungen verhindernKopfschutz muss Pflicht werden

Bei der EM in England tragen manche Spielerinnen schützende Stirnbänder. Im Fußball barhäuptig zu sein, ist nicht heroisch, sondern dumm.

Mit Überzieher, wenn's erst wird: Finnlands Tinja-Riikka Korpela spielt mit Kopfschutz Foto: Reuters/Peter Cziborra

A ls ich mit 11 diesen Fußball in Rot mit fünfeckigen weißen Aufnähern geschenkt bekam, fast ein halbes Kilo schwer das Ding im trockenen Zustand, lupfte mir ein Freund die Kugel auf den Kopf. Ich hielt den Schädel an die Pille und hatte das Gefühl, mir fliegt die Fontanelle weg. Mir brummte der Kopf, und ich entschied mich, das Köpfen von nun an eher zu lassen: Das konnte nicht gesund sein.

Fußballer und Fußballerinnen halten ihren Nischel in einem Spiel x-mal hin. Es geht nicht ohne Luftkämpfe. Nun ist es aber so, dass vor allem Fußballerinnen gefährdet sind, sich Gehirnerschütterungen zuzuziehen und an den Folgen dieser Hirntraumata länger zu leiden als männliche Ballschieber.

Einige Kickerinnen gehen mit diesem Risiko bewusst um. Sie ziehen sich einen Kopfschutz über. Das sieht man auch bei dieser Euro gelegentlich. Bei Anbietern wie Head­strong oder Storelli kann man so ein gepolstertes Stirnband für unter 100 Euro kaufen. Der Anteil der Spielerinnen, die sich schützen, ist aber viel zu klein. Nicht einmal fünf Prozent der Euro-Nationalspielerinnen tragen einen Kopfschutz, im deutschen Team ist es keine einzige.

Prävention ist trotz vieler Fälle noch immer nicht en vogue. Im Männer­fußball kennt man zwar die Maskenmänner wie Petr Čech oder Klaus Gjasula, aber ihre Helme trugen die erst, als sie schwere Kopfverletzungen erlitten hatten, also stets nur ­reaktiv.

Verwirrung und Demenz

Selbst wenn die Studienlage nicht eindeutig ist, so mehren sich doch in der letzten Zeit Berichte über Fußballer, die nach ihrer Karriere an einer degenerativen Hirnerkrankung leiden. Im Fokus ist seit einigen Jahren die Diagnose CTE, die chronische traumatische Enzephalopathie. Sie wurde in der US-Football-Liga NFL bei Dutzenden Spielern postmortal nachgewiesen.

CTE führt – Achtung, die Aufzählung ist beängstigend lang – zu Gedächtnisverlust, Verwirrung und Demenz, Depression, Aggressivität, Impulskontrollverlust und selbstmörderischem Verhalten, Persönlichkeitsveränderung, parkinsonähnlichen Zuckungen und Einschränkungen der Motorik. Ist Kontaktsport dieses Risiko wert?

Der ehemalige US-Fußballprofi Bruce Murray würde mit dem heutigen Wissen sicherlich sagen: nein. Der Hall-of-Famer leidet unter CTE-Symptomen, und beim ehemaligen Major-League-Soccer-Profi Scott Vermillion, der vor zwei Jahren im Alter von nur 44 Jahren starb, wurden in einer Autopsie morphologische Beweise für CTE gefunden. Immerhin steigt mittlerweile die Sensibilität im Umgang mit Gehirnerschütterungen, auch in der Welt des Fußballs. Teamärzte schauen nun genauer hin und können eigenmächtig eine Auswechslung anordnen.

Das Fußballregelboard IFAB hat darüber hinaus einen Test laufen, der aber erst 2023 abschließend evaluiert werden soll. Der Plan: Bis zu zwei kopfverletzte Spieler könnten in einem Match ausgewechselt werden, ohne dass dies zulasten des Einwechselkontingents geht. Das ist freilich nur ein kosmetisches Herumdoktern an einem Problem, dessen Dimension immer noch nicht richtig erfasst wurde. Zu oft wird verharmlost und abmoderiert.

Das Tragen eines Schutzes gilt im Männerfußball als weibisch. Eine Helmpflicht könnte Schlimmeres verhindern. Es sind derzeit Frauen wie die finnische Keeperin Tinja-Riikka Korpela, die womöglich einen Weg hin zu mehr Vernunft ebnen. Es ist nicht heroisch, barhäuptig aufzulaufen, es ist dumm.

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Redakteur
Seit 1998 mehr oder weniger fest bei der taz. Schreibt über alle Sportarten. Und auch über anderes.
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15 Kommentare

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  • Dem Autor scheint entgangen zu sein, dass Petr Čech seit seinem Unfall 2006 schon mit einem Kopfschutz spielte und andere Torhüter und Spieler es ihm auch ohne vorige Verletzung gleichtaten und noch tun. Weshalb der Verweis, dass Tinja-Riikka Korpela hier eine Vorreiterrolle zugeschrieben wird, nicht zutrifft.

  • Gleiches müßte dann aber auch für andere Sportarten mit der Gefahr eines Zusammenstoßes oder Balltreffers am Kopf oder auch durch Sturz gelten. Als da wären Handball, Feldhockey, Volleyball, Squash, Tennis, Tischtennis (hier sogar Augenschutz), Eiskunstlauf, Eisschnelllauf u.s.w.

  • Grundsätzlich gilt es Kopfverletzungen zu vermeiden. Wir befürchten nur den mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit behafteten Fall eines Zusammenstoßes mit den Kopf. Ich empfinde eine zunehmende gesellschaftliche Überängstlichkeit gegenüber allen Möglichkeiten, sich irgendwie und irgendwobei zu verletzen.



    Die Frage beim Fußball muß doch lauten: Wie wahrscheinlich ist es? Und schaut man sich alleine die DFL und untere Ligen an, so werden hunderte Spiele am Wochenende ausgeführt, von privaten Bolzereien mal abgesehen.



    Deshalb ist es nicht nur nicht heroisch, barhäuptig aufzulaufen, es auch nicht dumm, sondern völlig normal - im Gegensatz zu einer Überängstlichkeit. Denn eines ist mal klar, das größere Verletzungsrisiko beim Fußball bestehet für Füße, Beine, Gelenke und deren Sehnen und Muskeln. Aber jeder wie er/sie meint.

  • Der Helm hilft, Verletzungen des Schädels zu vermeiden. Worauf es aber ankommt, ist, die Verletzungen darin zu vermeiden. Jeder plötzliche Aufprall des Kopfes sorgt dafür, dass die beweglichen, zwar in gewebe eingebetteten, aber nicht unverletzlichen Teile der Nerven, die die Information der Zelle weitertragen und -geben, durch die Gegend geschleudert werden, im schlimmsten Fall verletzt werden, sodass es zu ungewolltem Ioneneinstrom und den entsprechenden Funktionseinschränkungen kommt. Verletzte Nervenhüllen können zu chronischen Entzündungen im Hirn führen, das ist kein Spass.



    Wenn hier bemängelt wird, es handele sich um eine Studie des American Football, muss kurz erwähnt werden, dass es vergleichbare Untersuchungen an FussballspielerInnen aus Australien gibt, die deren Ergebnisse bestätigen.

  • Das Problem langfristiger degenerativer Hirnschäden durch Kopfbälle existiert sicherlich, auch wenn niemand so genau weiß, wie häufig und unter welchen Bedingungen sie entstehen Dass ein wie immer auch geartetes Stirnband dies zu verhindern vermag, ist nicht sofort plausibel. Bevor hier heroische Schlachten um "gesundeWeiblichkeit" und störrische "krankmachende Männlichkeit" geführt werden, würde ich mir ein bisserl mehr Evidenz wünschen. Gibt es die nicht, oder kennt der Autor die nicht oder verschweigt er die Ergebnisse? Diese wohlfeile Argumentieren aus dem Bauch nervt, vor allem, wenn es sich, wie hier, um potentiell relevante Probleme des Alltags dreht.

    • 2G
      27814 (Profil gelöscht)
      @Ignaz Wrobel:

      Ich vermute das Stirnband schützt eher im Fall eines Zusammenprall. Deswegen tragen auch vermehrt Torhüter ein solches. Diese Spielerinnen köpfen auch nur selten den Ball, aber haben ein erhötes Risiko für einen Zusammenprall im Strafraum.

  • Reden wir jetzt über europäischen Fußball oder über American Football? Die Unterschiede im Körpereinsatz sind gewaltig. In Europa wird Fußball seit 200 Jahren ohne Kopfbedeckung gespielt, Ausnahme Torwart (wegen der Sonne).

    • @Kappert Joachim:

      "In Europa wird Fußball seit 200 Jahren ohne Kopfbedeckung gespielt": Argumente aus der Kategorie "das machen wir schon immer so" sind bekanntlich keine.

    • @Kappert Joachim:

      Stimmt. Das ist mir auch aufgefallen. Wieso wird eine Studie über American Football zur Rate gezogen. Football spielt man bekanntlich mit der Hand.



      Nichtsdestotrotz, auch im Fußball europäischer Prägung sollten wir die Augen offen halten und ggf. unsere Kinder mehr schützen.

      • @MeineMeinungX:

        Beim American Football werden immerhin meistens Helme getragen, wenn Spieler gegeneinanderdonnern, aber am Ende kommt es eher auf die Kräfte an, die auf so einen menschlichen Schädel einwirken.



        Das lässt sich auch ganz schnell im Netz finden:



        www.tk.de/technike...er-leisten-2034516



        "Kommt der Ball mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 86 Stundenkilometern angeflogen, wirkt beim Aufprall eine Kraft von 4.000 Newton auf den Kopf ein. Umgerechnet entspricht dies einem Gewicht von 20 Cola-Kisten."



        Ich kann dem Fazit des Autors jedenfalls nur zustimmen.

        • @Tetra Mint:

          Die Zahl stammt aus einem "Wir schießen den Ball frontal gegen eine Messplatte"-Versuch.



          Flanken werden dem Empfänger idR nicht mit voller Wucht aus kurzer Distanz vor die Stirn gezimmert. Und im Gegensatz zu den 20 Cola-Kisten ist die Kontaktzeit extrem gering und der Ball gibt nach, nicht der Schädel.

          • @darthkai:

            "der Ball gibt nach, nicht der Schädel": Es ist davon auszugehen, dass ein durchaus relevanter Teil der kinetischen Energie des Balles auf den Schädel und damit den Schädelinhalt übertragen wird. Die grauen Zellen werden einmal kräftig durchgeschüttelt.

        • @Tetra Mint:

          Ich hatte noch nie das Gefühl gegen 20 Cola-Kisten zu rennen, wenn ich einen Ball geköpft habe.

          • 2G
            27814 (Profil gelöscht)
            @Kappert Joachim:

            Sie rennen auch nicht dagegen, sondern tragen diese für die kurze Zeit ;-)

            Manchmal ist es schwierig Physik zu veranschaulichen.

          • @Kappert Joachim:

            Dass man's zunächst nicht einmal merkt, ist wahrscheinlich Ursache des Problems. Und wenn Sie sowas öfter machen, haben später Ihre pflegenden Angehörigen das Problem an der Backe.