Geheimdienst auf Jugendarbeit angesetzt: Klima der Einschüchterung
Landesjugendamt lässt interkulturelle Jugendverbände beim Verfassungsschutz überprüfen. Betroffene vermuten dahinter „schnöden Rassismus“.
Die AGIJ zeigte sich erschüttert: Man sei bewusst zurückhaltend mit dem Rassismus-Vorwurf, heißt es in einem Schreiben. Doch hinter den Aktivitäten des Landesjugendamtes vermutet die migrantische Jugendorganisation „schnöden Rassismus“.
Wie aus Mails hervorgeht, die mit geschwärzten Namen bei „Frag den Staat“ zu lesen sind, schrieb die Jugendamtsleiterin am 7. Juli an das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV), sie sei für die finanzielle Förderung von Jugendverbänden zuständig und wolle „angesichts der Diversität der Verbände“, sich „gerne einmal austauschen“ ob das LfV Hinweise habe, die „für unsere Arbeit von Bedeutung sind“.
Die Antwort kam am gleichen Abend. Da gebe es „ganz bestimmt Punkte für einen Austausch“, man melde sich „zeitnah“. Gut drei Wochen später schickt die Amtsleiterin dem LfV den Link zur den Mitgliedsverbänden der AGIJ: Mit „Blick auf ein geplantes Projekt zur Stärkung migrantischer Selbstorganisationen“ wolle sie wissen, ob dort Informationen zu einzelnen Gruppen vorliegen, die „auch unterhalb der Beobachtung zumindest Anlass zu einer kritischen Einschätzung geben“.
Unschöne Gespräche
Die AGIJ existiert schon seit gut 30 Jahren, hat ihr Büro in Altona und vertritt etwa 5.000 Jugendliche aus 75 Ländern – von China über Spanien und die Türkei bis nach Lateinamerika. Der Verband ist staatlich anerkannt und möchte die Integration von Jugendlichen fördern, „unter Wahrung und Pflege der kulturellen Herkunft, auf Basis der Hilfe zur Selbsthilfe“, schreibt der Vorstand. Ziel sei ein friedliches Zusammenleben und „Respekt der anderen Kulturen“.
Doch seit diesem Sommer hat es gleich mehrere unschöne Gespräche mit der Leitung des Landesjugendamts gegeben. „Wir wurden von der Behörde sehr unter Druck gesetzt“, berichtet Geschäftsführerin Melanie Martinez.
Zum einen sollte die AGJI schriftlich zusichern, dass ein Mitgliedsverein, der im Jahresbericht des LfV in Verbindung mit der Gruppe „Roter Aufbau“ erwähnt wird, von ihr kein Geld bekommt. Das sei aber unsinnig. „Wir dürfen sowieso kein Geld an Dritte weitergeben“, sagt Martinez. „Wenn, dann nur mit Erlaubnis der Sozialbehörde.“
Zudem habe ein Behördenvertreter die Vermutung geäußert, dass die AGIJ und ihre Verbände vom „geheim“ arbeitenden LfV beobachtet werden könnten – zu lesen in einer Gesprächsnotiz vom 20. Oktober.
Bis zuletzt sei unklar gewesen, ob die AGIJ 2024 ihre Zuwendung für Miete und Gehälter bekommt. Martinez: „Erst Mitte Januar hatten wir die Bescheide. So spät wie noch nie.“
Dass es überhaupt diese Anfrage beim Verfassungsschutz gab, wurde im November durch eine Anfrage der Linksfraktion publik. In der Antwort begründet die Sozialbehörde ihr Interesse damit, dass laut dem Verfassungsschutzbericht von 2022 ein als „extremistisch“ eingestufter Träger Verbindungen zu einem Jugendverband habe.
Da habe das Landesjugendamt „ausnahmsweise“ aus „Sorge um die Reputation“ Kontakt zum Verfassungsschutz gesucht. Das Ergebnis habe „erwartungsgemäß bestätigt“, dass keine weiteren Risiken bestünden. Der Wortlaut jener Kontaktaufnahme wurde erst kurz vor Weihnachten übers Transparenzportal publik.
„Erst aus dieser Korrespondenz wird die Chronologie ersichtlich“, sagt die Linken-Abgeordnete Olga Fritzsche. Nämlich dass die Landesjugendamtsleitung zunächst ohne Anlass beim LfV gefragt habe, ob gegen die migrantischen Verbände etwas vorliege. „Für so ein Vorgehen gibt es keine Grundlage“, sagt sie und verweist auf eine Senatsauskunft aus 2020. Behörden dürfen ohne „ausreichenden Verdacht über einen Rechtsverstoß“ keine Bewertung der Sicherheitsbehörden einholen.
Mitarbeiter irregeführt
Zudem geht aus einer Telefonnotiz hervor, dass das LfV schon am 1. August mitteilte, dass es „keine weiteren Informationen zu den angeführten Trägern gibt“. Doch statt den Vorgang auf sich beruhen zu lassen, soll die Jugendamtsleiterin laut Fritzsche am 30. August ihre Mitarbeitenden über die LfV-Anfrage informiert haben – und zwar „ohne offenzulegen, dass diese bereits am 7. 7. erfolgte und ihr seit dem 1. 8. die Antwort vorlag, dass keine Erkenntnisse vorlägen“.
Dadurch seien die Jugendamtsmitarbeitenden verunsichert worden, sagt Fritzsche. Es sei ein „Klima der Einschüchterung“ im Umgang der Jugendamtsmitarbeiter mit den Verbänden entstanden, schreibt sie in einer neuen Anfrage. Die Bürgerschaftsabgeordnete will wissen, weshalb ausgerechnet die interkulturellen Gruppen in den „Verfassungstreue-Focus“ gerieten und warum die AGIJ trotz „Entwarnung“ durch das LfV durch die Jugendbehörde „immer wieder zu Korrespondenz und Gesprächen aufgefordert wurde“.
Auch der „Verband für Kinder- und Jugendarbeit“ warnt, das Landesjugendamt dürfe sich nicht das Geschäft von Rechtsaußen zu eigen machen. Erschreckend sei der „rassistisch konnotierte Verdacht gegen migrantische Selbstorganisationen“.
Die Sozialbehörde äußert sich zum Mailwechsel nicht. Dieser sei ein „bilateraler Vorgang“ zwischen der Leitung des Landesjugendamtes und dem LfV, sagt Sprecher Wolfgang Arnhold. Er verweist auf einen Brief von Sozialstaatsrätin Petra Lotzkat an den Landesjugendring, in dem diese den „Schaden“ bedauert, den die Anfrage beim LfV ausgelöst habe, und versichert, dies sei ein einmaliger Vorgang, von dem die übrigen für die Jugendverbände tätigen Kollegen im Amt nichts gewusst hätten.
Lotzkat will am 24. Januar an einer Sitzung des Landesjugendrings teilnehmen, um die Sorgen zu klären. „Dazu gehört auch der Vorwurf, die Anfrage sei rassistisch motiviert“, sagt Arnhold. So ein Verhalten sei den Mitarbeitenden des Amtes noch nie vorgeworfen worden und er sei auch als genereller Vorwurf an das Landesjugendamt „zurückzuweisen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles