Geflüchtete auf Lesbos: Alle. Alle. Alle.
Wenn darüber debattiert wird, ob Deutschland Geflüchtete aus Lesbos holen kann, geht es immer um Kinder, Kranke, Schwangere. Es sollte um alle gehen.
A lle Menschen, die in griechischen Lagern festgehalten und gefoltert werden, müssen unverzüglich und ohne menschenfeindliche Symbolpolitik in Sicherheit gebracht werden. Ich gehe an dieser Stelle auf die hässlichen politischen Agenden der griechischen Regierung, der Bundesregierung und der EU ein. In den vergangenen Tagen habe ich nämlich eine viel mächtigere Dynamik beobachtet, die selbst die wenigen anständigen Entscheider*innen der europäischen Politik beeinflusst.
Im gesamten politischen Spektrum wird mittlerweile betont: Wir müssen ein paar Flüchtlinge aufnehmen, vor allem aber unbegleitete Kinder und Jugendliche, Familien, ein paar Schwangere, bisschen chronisch Kranke, vielleicht noch drei oder vier Senior*innen aus Moria evakuieren. Im Umkehrschluss bedeutet diese Katastrophenbewältigung der Trippelschritte aber auch: Alle anderen sollen im Elend verrecken. Aber: Auch gesunde, kräftige Männer zwischen 18 und 49 Jahren haben ein Anrecht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und Würde. Deswegen ist das erste Wort dieser Kolumne: Alle.
In Deutschland herrscht spätestens seit 2015 eine bedrückende Verlegenheit, wenn über die Grundrechte von Geflüchteten gesprochen wird. Man muss sich quasi entschuldigen, wenn man verlangt, dass Menschen nicht in überfüllten Lagern verbrennen oder an Krankheiten sterben, dass sie in Coronazeiten nicht auf engstem Raum zusammengepfercht vor sich hin vegetieren oder gezwungen werden, Abwasser zu trinken. Wie in Moria geschehen.
Im gesamten politischen Spektrum verweisen viele auf „die europäischen Werte“. Im Studium habe ich gelernt, dass es eine Verfassung und Verfassungswirklichkeit gibt. Meistens wurde in den Uni-Seminaren über den sogenannten „Globalen Süden“ in diesem Zusammenhang gesprochen.
Allerdings kann dies auch auf Europa heute angewendet werden. In diesem Sinne würde ich gerne eine kommentierte Neuauflage des Vertrags von Lissabon pitchen, in der die Intentionen der Gründermütter und -väter und politische Praxis von heute deutlich werden. Hier ein Auszug aus Artikel 2 [samt Kommentar]:
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde [aber nur für EU-Staatsangehörige, Netto-Zahler*innen in den EU-Haushalt bekommen doppelte Würde], Freiheit [generell nur für Träger*innen von hässlichen Europa-Kapuzenpullis], Demokratie [Nazis in den Parlamenten sind willkommen], Gleichheit [es sei denn Geflüchtete bekommen dasselbe wie wir], Rechtsstaatlichkeit [gilt nicht für die faktische Abschaffung des Asylrechts; zum Beispiel in Ungarn] und die Wahrung der Menschenrechte [Späßchen! hahaha!] einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören [es sind ausschließlich Deutsche in Belgien gemeint].
Vielleicht wird Ihnen jetzt klar, wie es überhaupt so weit kommen konnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen