Gedenktag 6. Dezember 1938: Aborigines-Protest gegen Hitler
Den 9. November '38 verfolgten auch die Aborigines mit Entsetzen. Sie schrieben einen Brief, doch der deutsche Konsul empfing sie nicht.
Während am 9. November überall in Deutschland der Novemberpogrome vor 79 Jahren gedacht wurde, erinnerte die australische Botschaft in Berlin-Mitte an ein weniger bekanntes Ereignis: an den australischen zivilgesellschaftlichen Protest gegen die nationalsozialistische Partei in Deutschland und ihr Vorgehen gegen die Juden in Europa.
Auf einem weit entfernten Kontinent, in der Stadt Melbourne, versuchte am 6. Dezember 1938 ein Mann namens William Cooper dem deutschen Generalkonsul in Australien eine Petition gegen „die grausame Verfolgung des jüdischen Volkes durch die nationalsozialistische Regierung in Deutschland“ zu übergeben, wobei Cooper forderte, „dass dieser Verfolgung ein Ende gesetzt wird“.
Cooper war nicht erst kürzlich aus Europa geflohen, sondern ein Mitglied des australischen Aborigine-Stammes Yorta Yorta und Vorsitzender der Australischen Aborigine-Liga. Sein Enkelsohn, Alf Turner, in seiner Heimat besser bekannt als Uncle Boydie (wobei „Onkel“ in der Kultur der australischen Ureinwohner eine respektvolle Anrede für Ältere ist), verbrachte einen Großteil seiner frühen Kindheit im Haus seiner Großeltern.
„Mein Großvater genoss großen Respekt bei den Menschen in seiner Gemeinschaft – schon immer. Er war einer der Wenigen mit ein bisschen Bildung“, erinnert sich Uncle Boydie, als er jetzt im November in Berlin war. „Mit Mitte 20 war er in der Lage, einen ordentlichen Brief zu schreiben, und so kam er dazu, sich für die Rechte der Aborigines einzusetzen.“
Als Aborigine übergang man ihn bei der Volkszählung
Im Jahr 1938 hatte sich der damals 76-jährige William Cooper bereits viele Jahre lang für die Rechte der australischen Ureinwohner eingesetzt, ein Kampf, der frustrierend wenig Fortschritte gebracht hatte. Sein Sohn Daniel war als Soldat im Ersten Weltkrieg getötet worden. Daniel Cooper war gut genug gewesen, um für sein Land zu kämpfen und zu sterben, aber als Aborigine war der junge Mann bei der Volkszählung nicht als Person mitgezählt worden.
Sein Vater William Cooper interessierte sich für internationale Politik und Zeitgeschehen. Sein Wissen bezog er dabei vor allem aus dem Auslandsteil der lokalen Zeitungen. Seit 1933 hatte er die Notlage der Juden in Deutschland mit wachsender Beunruhigung verfolgt: „Jeden Tag ging er, kaufte eine Zeitung und las sie. Und natürlich war 1938 die Zeitung eine ganze Woche lang voller Nachrichten darüber, was in Deutschland mit den Juden geschah. Er regte sich sehr darüber auf, was er da las.“
Die Empathie seines Großvaters für das Schicksal der Juden in Europa sei groß gewesen, erzählt Uncle Boydie, auch weil der Zustand der Angst, Verzweiflung und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit ihn an die Erfahrungen seines eigenes Volkes erinnerten.
Coopers Enkel weiß noch genau, wie sein Großvater in den Wochen nach dem 9. November 1938 ungeduldig darauf wartete, dass die politischen Führer der Welt auf das Blutbad in Deutschland reagieren würden. „Er dachte, jemand würde aufstehen und etwas unternehmen. Aber das taten sie nicht“, erklärte Uncle Boydie, „daher berief er eine Versammlung des ganzen Leitungskomitees der AAL (Australische Aborigine-Liga) ein. An Ort und Stelle beschlossen sie, einen Protestbrief zu schreiben und dem deutschen Botschafter zu überbringen.“
Elf Kilometer Fußmarsch bis zum deutschen Konsulatat
Cooper beantragte einen Termin beim deutschen Generalkonsul, und am 6. Dezember machte sich der betagte Aborigine gemeinsam mit anderen Mitgliedern der AAL auf einen elf Kilometer langen Fußmarsch vom Melbourner Vorort Footscray, in dem er lebte, bis zum deutschen Konsulat in die Innenstadt. „Als sie dort ankamen und an die Tür klopften, war niemand bereit, mit ihnen zu sprechen. Sie wurden weggeschickt, aber sie ließen den Brief da“, erzählt Turner.
Die Protestaktion vor dem deutschen Konsulat blieb nicht unbemerkt. In einer Melbourner Zeitung wurde ein kurzer Artikel darüber veröffentlicht. Die Aktion der Aborigine war der einzige bekannte zivilgesellschaftliche Protest gegen die Gräuel der sogenannten Kristallnacht in Australien.
Zurückweisung war nichts Neues für Cooper. Im gleichen Jahr hatte er sich mit Petitionen für eine direkte Vertretung der Aborigines im australischen Parlament eingesetzt und im Januar die erste Aborigine-Abordnung angeführt, die Premierminister Joseph Lyons hierzu eine Unterschriftensammlung überreichte. Aber der Premierminister weigerte sich, die Petition an den damaligen britischen König George VI. weiterzuleiten – ein bitterer Rückschlag für die australischen Ureinwohner.
Uncle Boydie – heute selbst 89 – hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben und Wirken seines Großvaters in der Welt bekannt zu machen. In den vergangen Jahrzehnten erreichte er, dass jüdische Gemeinden in verschiedenen Ländern William Cooper geehrt haben.
Mit fast 90 an seinem Ziel angekommen
Dessen Geschichte ist nicht nur fester Bestandteil der Dauerausstellung des Melbourner Holocaust-Zentrums. 2010 honorierte der Exekutivrat der Australischen Juden „mit Dankbarkeit und Respekt“ Coopers Petition zu einem Zeitpunkt, als „Aborigines selbst Bürgerstatus und andere grundlegende Rechte verwehrt wurden“.
Sein Enkel war auch in Israel dabei, als die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem William Cooper in den Garten der Gerechten unter den Völkern aufnahm und in seinem Gedenken 65 Bäume im Yatir-Wald am Rande der Wüste Negev gepflanzt wurden. Erst kürzlich hat Israel eine Forschungsprofessur zur Unterstützung der internationalen Holocaust-Studien eingerichtet und nach ihm benannt.
Am diesjährigen 9. November überreichte Turner in der australischen Botschaft in Berlin eine Kopie von William Coopers Brief aus dem Jahr 1938 an Botschafter Felix Klein, den Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen.
Mit fast 90 hat der Aborigine-Älteste endlich das Gefühl, seine Lebensaufgabe erfüllt zu haben: „Ich wollte den Namen William Cooper in der Welt bekannt machen, damit die Leute wissen, was er und seine Mitstreiter getan haben“, erklärte er. „Ich kannte alle, die damals im Komitee waren, und sie wären sicher sehr zufrieden, wenn sie von dieser Anerkennung wüssten.“
Gerade in den heutigen Zeiten sei Zivilcourage notwendiger denn je, findet Uncle Boydie: „Man muss etwas tun, wenn man Unrecht sieht oder hört, dass es auf der Welt geschieht. Das ist das wahre Vermächtnis meines Großvaters.“
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