Gedenkstätten-Chef über Provokateure: „Rechte bekommen Diskurshoheit“
Die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen erlebt mehr Provokateure, die die Shoah anzweifeln, sagt Jens-Christian Wagner.
taz: Herr Wagner, sind rechte Provokateure, von denen Sie jüngst berichteten, in KZ-Gedenkstätten etwas Neues?
Jens-Christian Wagner: Nein. Abwehr und Leugnung von NS-Verbrechen sind nicht neu. Wir beobachten aber, dass dies durch Gedenkstätten-Besucher sagbarer geworden ist und dass es häufiger vorkommt. Außerdem erleben wir, dass in Besuchergruppen – auch bei Schülern – Einzelne offenbar gezielt darauf vorbereitet wurden, provozierende Fragen zu stellen. Ziel sind Scheindebatten, in denen revisionistische Überzeugungen verkündet werden.
Jens-Christian Wagner, Jahrgang 1966, ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und lehrt Geschichte an der Universität Jena. Zuvor war er Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten.
Woran erkennen Sie diese Fragen?
Es sind Signalfragen, die zunächst harmlos erscheinen, aber einen provozierenden Hintergedanken haben. Der Klassiker: Es wird nicht geleugnet, dass es in Bergen-Belsen hohe Opferzahlen gab, insbesondere 1945, in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs. Der Provokateur behauptet aber, dies sei die Folge kriegsbedingter Versorgungsengpässe wegen der Luftangriffe der Alliierten gewesen. Daher seien die Alliierten an dem Massensterben in Bergen-Belsen schuld – und nicht die SS, die die KZ verwaltete und bewachte.
Womit argumentieren die Provokateure noch?
Mit den Rheinwiesenlagern. Das waren 1945 errichtete US-amerikanische Kriegsgefangenenlager entlang des Rheins mit einigen Tausend Toten. Die „Provokateure“ führen – echte oder erfundene – historische Studien an, aus denen hervorgehe, dass die Verhältnisse in den Rheinwiesenlagern schlimmer waren als in Bergen-Belsen. Wenn dann unser Gedenkstätten-Mitarbeiter sagt, das könne man nicht vergleichen, weil es eine Umkehr von Ursache und Wirkung sei, da die Deutschen den Krieg begonnen hätten, heißt es: „Sie leugnen die Verbrechen der Alliierten an den Deutschen, um uns einen Schuldkult einzutreiben.“
Werden auch Opferzahlen angezweifelt?
Ja. Es gibt in Bergen-Belsen ein von jüdischen Überlebenden aufgestelltes Mahnmal von 1946, das von 30.000 hier ermordeten Juden spricht. In unseren Publikationen erwähnen wir aber 52.000 ermordete Häftlinge, von denen etwa die Hälfte Juden waren, also 25.000 bis 26.000 Menschen. Dann sagt der Provokateur: „Auf dem Mahnmal werden 5.000 Tote zu viel genannt. Da sieht man wieder, wie in der Gedenkstätte Geschichte gefälscht wird.“
Wie reagiert die jeweilige Gruppe auf solche Reden?
Früher gab es in solchen Situationen gehörig Contra, und dann schwiegen die Provokateure. Auch heute bekommen diese Leute in den meisten Gruppen Contra. In einigen Gruppen aber wird nicht so klar widersprochen, und die Rechten bekommen die Diskurshoheit. Das ist neu.
Wie erklären Sie sich das Schweigen der Mehrheit?
Ich denke einmal an die „Blasen“-Mentalität der Social Media, wo oft Behauptung gegen Behauptung steht und echte Debatte nicht möglich ist. Andererseits arbeiten die Provokateure mit vermeintlichem Spezialwissen, das ihnen von geschichtsrevisionistischer Seite eingetrichtert wurde.
Auch durch Lehrkräfte?
Ja. Neulich ließen in einer Schülergruppe beim Besuch von Bergen-Belsen einige Jugendliche provozierende Bemerkungen fallen. Auf Nachfrage sagte die Lehrerin, sie sei kurzfristig für den regulären Geschichtslehrer eingesprungen, einen AfD-Mann.
Sie sagten, die Provokationen häuften sich, dennoch seien es Einzelfälle. Die Gedenkstätten Neuengamme, Ahrensbök und Esterwegen etwa erleben bislang nichts dergleichen. Wie repräsentativ sind Ihre Erfahrungen?
Das kann ich noch nicht sagen. Wir haben erst Ende 2019 begonnen, diese Vorfälle in niedersächsischen Gedenkstätten zentral zu erfassen.
Wie reagieren Sie vor Ort?
Die Gedenkstätte Bergen-Belsen veranstaltet Schulungen für alle, die Gruppen betreuen. Wir analysieren die Signalfragen und überlegen: Wie kann man auf den Mythos der Rheinwiesenlager reagieren? Dazu gehört, dass man die einschlägigen Studien kennt und nicht hilflos ist, wenn jemand behauptet: „Der berühmte Historiker Schneider hat in seinem berühmten Buch geschrieben, die Rheinwiesenlager seien schlimmer gewesen als Bergen-Belsen.“ Dann kann man antworten: „Das ist das Buch eines Holocaust-Leugners, erschienen in einem rechtsextremen Verlag. Wenn Sie aber dieses und jenes andere Buch lesen, finden Sie seriöse Fakten.“
Reicht das?
Manchmal muss man auch Anzeige erstatten, wenn jemand den Holocaust leugnet oder Volksverhetzung betreibt. Allerdings sind die Provokateure oft so geschult, dass ihre Äußerungen (noch) nicht justiziabel sind. Dann bleibt nur das Hausverbot.
Hängt das Erstarken revisionistischer Tendenzen auch mit dem wachsenden Zeitabstand zur Schoah und dem Versterben der Überlegenden zusammen?
Ja. Hinzu kommt, dass die Relevanz des Themas für unser demokratisches Miteinander oft nicht mehr erkannt wird. Das war in den ersten 60 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg anders.
Wirklich?
Leugner hat es in den 1950er-, 1960er-Jahren zuhauf gegeben, das stimmt. Aber im Grunde haben sich immer alle am Nationalsozialismus abgearbeitet – selbst wenn es Abwehr war. Der Nationalsozialismus war immer die Folie, auf der unsere Demokratie verhandelt wurde. Das hat nachgelassen.
Wie erklären Sie sich das?
Das ist einerseits generationell bedingt. Es hat aber auch mit Defiziten in unserer öffentlichen Erinnerungskultur zu tun. Wir haben uns in den letzten 20 Jahren viel zu stark mit den Opfern befasst. Verstehen Sie das nicht falsch: Das ist essenziell und wichtig. Nur hat die Trauer den Blick auf die Täter verstellt. Unsere Gesellschaft hat sich zu wenig mit der Funktionsweise der NS-Gesellschaft befasst – einer radikal rassistisch organisierten, die mit Ausgrenzung einerseits und Integrationsangeboten an die „Dazugehörigen“ andererseits arbeitete. Das NS-System war ein alle gesellschaftlichen Bereiche umfassendes Geflecht aus Profiteuren, Mitläufern und Zuschauern – von der Wirtschaft über Universitäten, Bürokratie und Polizei bis zur Nachbarschaft mit ihren Denunziationen. Diese Themen wurden in der öffentlichen Sicht auf den Nationalsozialismus zu wenig berücksichtigt.
Die Gedenkstätte Neuengamme befasst sich seit Jahren sehr explizit in Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen mit genau diesen Themen.
Ja, auch andere Gedenkstätten machen das. Dies soll auch keine Pauschalkritik an den Gedenkstätten sein. Es geht eher um den öffentlichen Blick auf die NS-Verbrechen: Um Opfer zu trauern, ist eben einfacher, als Fragen nach den Tätern zu stellen. Aber auch in den Gedenkstätten müssen wir nachjustieren. In Bergen-Belsen, wo die Täter in der Dauerausstellung nur wenig thematisiert werden, bereiten wir zum Beispiel derzeit eine Sonderausstellung zu den Themen Täterschaft und Gesellschaft im Umfeld des Lagers vor.
Wären verpflichtende Gedenkstättenbesuche für Schulklassen eine Lösung?
Nein. Letztlich kann nur Freiwilligkeit etwas bewirken, und das sagen wir den Lehrern und Schülern auch. Abgesehen davon verändert ein Gedenkstättenbesuch nicht zwangsläufig die innere Haltung. Ich habe schon Rechtsextreme erlebt, die regelmäßig KZ-Gedenkstätten besuchen, um die „Leistungen“ der Nationalsozialisten zu feiern.
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