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Gedenken und Glorifizierung

Am Jahrestag des 7. Oktober beklagt Kanzler Merz eine „neue Welle des Antisemitismus“ in Deutschland. In Berlin verbietet die Polizei eine Demo, in deren Aufruf der Hamas-Anschlag gefeiert wurde

Aus Hamburg und Berlin Jan Kahlcke und Tobias Schulze

„Hamburg zeigt Flagge“ ist das Motto der stillen Mahnwache für die Opfer des Hamas-Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023. Es ist ausgeborgt von der Pride-Week, statt Regenbogen-Fahne hängt die israelische Flagge über der Tür des Hamburger Rathauses. Sie ist mit Stahlseilen abgespannt, damit die Nachwehen des letzten Sturmtiefs sie nicht zu sehr zerzausen.

Flagge zeigen auch die bis zu 400 Teilnehmenden – die israelische, aber auch die iranische aus der Schah-Zeit. Dazu Schilder mit Bildern der Geiseln, die sich nach zwei Jahren zum Teil immer noch in der Gewalt der Hamas befinden. Organisator Wolf Achim Wiegand (FDP) begrüßt die Anwesenden und ganz explizit auch „die israelische Flagge“, wofür es Applaus gibt. „Das Massaker des 7. Oktober droht in Vergessenheit zu geraten“, sagt er. Deswegen wolle er heute auch nicht darüber sprechen, „was danach im Nahen Osten geschehen ist“. Und doch: „Wir sehen auch das Leid unschuldiger Menschen in Gaza – auch sie verdienen unser Mitgefühl.“ Aber: „In Gaza sind nicht alle unschuldig.“ Dann stimmen sie gemeinsam die Hatikvah an, die israelische Nationalhymne.

Auch an anderen Orten in Deutschland wurde am Dienstag den Opfern des 7. Oktober gedacht, zum Teil mit hochrangigen Beteiligten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach in der Leipziger Synagoge mit Jüd*innen. Er sei in Gedanken bei den Opfern und den Geiseln, sei aber auch „in tiefer Sorge um die vielen Not leidenden Menschen in Gaza“, sagte Steinmeier. Kritik an der aktuellen israelischen Politik dürfe niemals „als Rechtfertigung für Anfeindungen oder Übergriffe gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger in unserem Land missbraucht werden“.

Bundeskanzler Friedrich Merz sprach in einer Videobotschaft von einer „neuen Welle des Antisemitismus“ in Deutschland nach dem 7. Oktober. Er zeige sich in „altem und neuem Gewand (…) immer lauter, immer unverschämter und immer öfter auch in Form von Gewalt.“

Der Antisemitismus zeige sich „immer lauter, immer unverschämter.“

Für Dienstagabend war in Berlin eine anti-israelische Kundgebung geplant, am Nachmittag gab die Polizei deren Verbot bekannt. Auf Plakaten für die Veranstaltung unter dem Motto „Until total liberation“ („Bis zur totalen Befreiung“) war unter anderem ein Gleitschirm zu sehen – eine Anspielung auf die Fluggeräte, die Hamas-Terroristen für ihren Anschlag genutzt hatten. Im Aufruf wurde das Massaker als „heldenhafter Ausbruch aus dem Gefängnis“ bezeichnet. Bereits am Dienstagmorgen blockierten Ak­ti­vis­t*in­nen eine Kreuzung in Berlin-Friedrichshain und feierten den palästinensischen „Widerstand“.

Der Bundestag tagte am Dienstag nicht, wird sich aber am Mittwoch mit dem 7. Oktober beschäftigen – im Rahmen einer sogenannten Aktuellen Stunde, die die Regierungsfraktionen beantragt haben. Unklar blieb vorab, ob es wie bei vergleichbaren Anlässen in den vergangenen Monaten wieder Ärger um die Kleiderordnung geben könnte: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner war zuletzt verstärkt gegen das Tragen politischer Symbole im Plenarsaal vorgegangen.

Auf die Frage, ob am Mittwoch beispielsweise Pins mit israelischen oder palästinensischen Flaggen oder Gedenkschleifen für den 7. Oktober geduldet werden, antworte ein Sprecher des Bundestags lediglich: Im Präsidium sei besprochen worden, „auch in dieser Wahlperiode grundsätzlich darauf hinzuwirken, dass im Plenarsaal auf das Tragen von Symbolen, mit denen eine politische Demonstration oder Uniformierung verbunden ist und die zu diesem Zweck getragen werden, verzichtet wird.“

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