Gedenken an die Opfer von Magdeburg: Drei schreckliche Minuten
Auf Mahnwachen gedenken Magdeburger:innen der Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt. Währenddessen versuchen Rechte, die Tat zu instrumentalisieren.
Trotz des anhaltenden Nieselregens steht Jentsch ohne Kapuze vor dem Dom und wartet darauf, dass der ökumenische Gottesdienst beginnt, der per Leinwand nach draußen übertragen wird. Die respektvolle Stille finde er gut. Weil sein Verein auf dem Weihnachtsmarkt einen Stand hatte, war Jentsch am Vorabend während des Anschlags da und Sekunden später bei den Opfern.
Die Amokfahrt dauerte laut Angaben der Polizei drei Minuten. Um kurz nach 19 Uhr sei der mutmaßliche Täter mit einem Auto durch die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt in der Magdeburger Innenstadt gefahren. Mittlerweile ist er verhaftet. Laut der Stadt Magdeburg sind bislang vier Frauen und ein neunjähriger Junge gestorben. Zudem gibt es 200 Verletzte, darunter 41 Schwerverletzte. Der Weihnachtsmarkt ist in diesem Jahr beendet, aus Respekt vor den Opfern. Die Frage, inwieweit das Sicherheitskonzept versagt hat, steht nun im Fokus der Aufarbeitung.
Beim Gedenken auf dem Domplatz ist ein Helikopter zu hören, der über der Stadt kreist. Aus der Ferne tönt undeutliches Gebrüll. Ein paar hundert Meter weiter haben sich laut Polizei 2.100 Neonazis und andere Rechtsextreme versammelt. „Furchtbar“, sagt Jentsch. Später ergänzt er, das zeige, wie „gespalten ja auch teilweise die Gesellschaft mit ihrer Trauer ist“.
Anspannung in Mageburg
Rund um den geschlossenen Weihnachtsmarkt haben Menschen Kuscheltiere und Kerzen abgelegt. An mehreren Gedenkorten in der Stadt liegen viele Blumen und Kränze. International äußerten Politiker:innen Bestürzung über den Anschlag in Magdeburg. Mehrere Bundesländer, etwa Hamburg und Schleswig-Holstein, erhöhten die Polizeipräsenz auf Weihnachtsmärkten. Deutsche Spitzenpolitiker besuchten am Samstag den Tatort in Magdeburg und versprachen, die Betroffenen zu unterstützen.
Aber in der Stadt selbst ist neben Trauer auch Anspannung zu spüren. Für Jentsch wurde das schon Minuten nach dem Anschlag deutlich.
CSD Magdeburg konnte auf dem Weihnachtsmarkt am Freitagabend in der sogenannten Vereinshütte eigene Aktionen präsentieren und sich Interessierten vorstellen. Jentsch war dazu gerade vor dem Stand im Gespräch, als ihn ein plötzliches Krachen erschreckte. Darauf seien Schreie zu ertönt, „und die hörten nicht mehr auf“.
Er sei um den Stand herumgelaufen, habe die vielen Verletzten gesehen. Während erfahrene Ersthelfer:innen denen zur Hilfe geeilt seien, habe sich Jentsch um Traumatisierte gekümmert. Und genau da, daran erinnere er sich noch gut, habe jemand in Richtung des CSD-Stands gerufen: „Ihr seid mit schuld, weil ihr habt den ganzen Mist ja gewählt.“
Täter aus Saudi-Arabien
Andernorts ordneten Rechtsextreme den Anschlag schnell als mutmaßlich islamistisch ein und betonen die nichtdeutsche Herkunft des Täters: Taleb A., ein 50-Jähriger, der die saudi-arabische Staatsbürgerschaft hat und 2006 nach Deutschland kam. Er hatte demnach einen unbefristeten Aufenthaltstitel, unterstützte Geflüchtete und arbeitete zuletzt als Psychiater in Bernburg, etwa 50 Kilometer von Magdeburg entfernt.
Warum er den Anschlag begangen hat, lässt sich bislang nur spekulieren. In Interviews und auf Social Media äußerte sich A. immer wieder feindlich über den Islam und lobte die Politik der AfD. Er verbreitete Verschwörungstheorien, etwa, dass Deutschland eine Islamisierung Europas vorantreibe.
Doch auch die deutschen Ermittlungsbehörden machten bislang noch keine abschließenden Angaben zu seinen Motiven. Der leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens sagte am Samstagnachmittag bei einer Pressekonferenz in Magdeburg, dass „Unzufriedenheit mit dem Umgang mit saudi-arabischen Flüchtlingen in Deutschland“ der Grund für die Tat gewesen sein könnte.
Kurz nach dem Anschlag mobilisierten Neonazi-Parteien und -Vereine zu einer Kundgebung beim Magdeburger Hasselbach am Samstagabend. Die Polizei rechnet vorab mit rund 1.000 Teilnehmer:innen, am Ende sollen es 2.100 gewesen sein. Um kurz nach 18 Uhr skandierten die Personen auf dem dunklen Hasselbachplatz: „Wir sind das Volk!“ Viele trugen rechte Szenekleidung, einige waren vermummt. Auf einem großen Banner stand „Remigration“. Später marschierten sie bis zum Bahnhof, warfen Böller und bedrängten Journalist:innen.
Einen direkten Gegenprotest vor Ort aus der Zivilgesellschaft gab es nicht, nur eine kleine Kundgebung Opernhaus und die stille Gedenkveranstaltung vor dem Magdeburger Dom. Pascal Begrich, Geschäftsführer des Vereins Miteinander in Sachsen-Anhalt, erklärte vorab dazu: „Wir wollen mit der Mahnwache Raum zum stillen Gedenken geben.“ Trotzdem stand die Instrumentalisierung des Anschlags durch Rechtsextreme dabei nicht im Mittelpunkt. Darauf hätten sich verschiedene zivilgesellschaftliche Bündnisse, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände geeinigt. „Bei uns sitzt der Schock und die Trauer tief“, sagte Begrich.
Bedrohlich für Migrant:innen
Mit Instrumentalisierung meine er, dass die Tat schon am Freitagabend genutzt worden sei, um migrationsfeindliche Politik zu bewerben. Auch als sich abzeichnete, dass der Täter selbst islamfeindlich eingestellt sei, habe sich das nicht geändert. „Die Akteure der rechten Szene behaupten, da habe sich Rassismus gegen Weiße Bahn gebrochen.“ In deren Weltbild gehöre der Täter nicht nach Deutschland. Er sei demnach durch Werte geprägt, die nicht zu der deutschen Kultur passten und einen Hass auf die westliche Gesellschaft förderten, erklärt Begrich.
In der Folge kam es in Magdeburg zu Übergriffen auf Personen, die offenbar als migrantisch oder muslimisch wahrgenommen wurden, wie Hans Goldenbaum, Bereichsleiter bei der Fach- und Beratungsstelle für Gewalt und Radikalisierungsprävention „Salam“, berichtet. Es habe Beschimpfungen und körperliche Übergriffe gegeben. In Chatgruppen verschiedener migrantischer Communitys kursierten Warnungen, dass die Menschen zu Hause bleiben und Aufenthalt oder Wege auf der Straße vermeiden sollen. Vor der Neonazidemonstration am Samstagabend hätten einige zur Sicherheit die Stadt verlassen.
Am 23. Dezember will nun auch die AfD eine Kundgebung in Magdeburg abhalten. Zwei AfD-Politiker meldeten sich in Magdeburg schon Freitagabend zu Wort. „Die politisch Verantwortlichen sitzen in Berlin und in Magdeburg in der Regierung“, sagte Martin Reichardt, Vorsitzender der AfD in Sachsen-Anhalt und Mitglied des Bundestags, in einem Video des AfD-nahen Deutschlandkuriers. Er stand noch am Freitagabend neben dem Weihnachtsmarkt, hinter ihm blinkte Blaulicht, Rettungskräfte waren im Einsatz. An seiner Seite stand Ronny Kumpf, Vorsitzender der AfD im Magdeburger Stadtrat, und ergänzte, die Sicherheitsmaßnahmen hätten offensichtlich nichts gebracht. „Es ist eine völlig falsche Migrationspolitik, die hier betrieben wurde“, sagte Kumpf.
Auf dem leeren Weihnachtsmarkt traten tags darauf um kurz nach 12 Uhr Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) vor die Kameras. Die Lage sei „noch schrecklicher“ als am Abend zuerst angenommen. „Bisher hat sich das niemand vorstellen können“, sagte Haseloff zu dem Anschlag. Den Rettungskräften und der medizinischen Versorgung der Krankenhäuser im Umland sei es zu verdanken, dass bislang nicht noch mehr Menschen gestorben sind.
Scholz versicherte die Solidarität aller, die in Deutschland Verantwortung tragen. „Wir werden und wir müssen zusammenstehen.“ Es sei wichtig, solidarisch zusammenzustehen und „dass wir diejenigen nicht durchkommen lassen, die Hass säen wollen“. Zunächst stehe an, die Tat aufzuklären, das Motiv des Täters zu verstehen, „um dann mit den strafrechtlichen und notwendigen anderen Konsequenzen darauf zu reagieren“. Als der Bundeskanzler dann den Weihnachtsmarkt verließ, bepöbelten ihn einige Leute am Absperrband.
Auf der anderen Seite des Weihnachtsmarkts, an der Johanniskirche, gab es am Sonntag eine weitere Mahnwache zum Gedenken an die Opfer. Auch Falko Jentsch war wieder da. Das Blumenmeer vor dem Eingang wachse stündlich, sagt er. „Das war eine sehr würdevolle, ruhige Atmosphäre.“
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