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Gedanken zum Neuen JahrMit Hoffnung beginnen

In den vergangenen Jahren ist viel passiert, hoffnungsvoll zu bleiben fällt schwer. Doch ohne Hoffnung kann etwas Neues kaum beginnen.

Der chinesische Präsident Xi Jinping 2014 an einer Wand in Hong Kong Foto: Athit Perawongmetha/Reuters

E s ist so: Ich muss jedes Jahr mit Hoffnung beginnen. Es geht nicht anders. Am letzten Tag des vergangenen Jahres habe ich den Esstisch ins Schlafzimmer gestellt, weil das Licht dort besser ist. Ich habe eine Tischdecke darauf gelegt – eigentlich ist es ein altes Bettlaken, aber was genau soll der Unterschied sein? – und dann sogar noch ganz ordentlich einen Läufer über das Laken. Besteck, das man auf Tischdecken legt, ist fast geräuschlos. Ich habe Messer und Gabeln ordentlich platziert und kam mir dabei vor wie eine, die am Silvesterabend spielt, dass ordentlich platziertes Besteck um Mitternacht auch den Rest der Welt in Ordnung bringen wird.

In der Küche warf ich zwölf Rotgarnelen in die Pfanne, für jeden Monat eine und für jedes Tierkreiszeichen. Beim zweiten Wein wünschte ich mir, im Jahr der Rotgarnele geboren worden zu sein, leider gibt es das nicht. Du hast gelacht, oder du hättest gelacht, wenn du dabei gewesen wärst. Ich legte je sechs Schalentiere auf zwei Teller, in die Mitte eine Zitronenscheibe als Sonne.

Es ist so, hast du immer gesagt, dass das doch alles eine Lüge ist. Die Sache mit dem Jahresende und dem Neubeginn. Eine Einladung, alles Unangenehme zu vergessen, es liegen zu lassen und sich nicht mehr zu scheren um – was war 2021? Pandemie, Afghanistan, Flut, Erschöpfung. Und 2020? Pandemie, verbrennende Erde, Hanau, Schock. Gehen wir noch weiter zurück oder jetzt nach vorn?

Selten gibt es mehr Hoffnung, als zu Neujahr

Hast du gesehen? In Hongkong versuchen sie, die Erinnerung leise davonzutragen, und hier, das habe ich gelesen, wollen 55% einen „Schlussstrich“ unter das „Kapitel“ des Na­tio­nalsozialismus setzen, Kapitel, als stünde er nicht zwischen allen Zeilen. Das sind sehr verschiedene Nachrichten, aber irgendwie auch nicht. Neuanfänge sind denen recht, die Erinnerung fürchten. Aber was kommt, darüber täuscht kein Jahr+1 hinweg, ist eine Verlängerung dessen, was bereits gewesen ist.

In der Küche köchelte eine Soße vor sich hin und ich gab dir recht. Trotzdem, sagte ich, selten ist mehr Hoffnung als dann, wenn ein neues Jahr beginnt. Also bei mir. Ich kratze sie zusammen, dann muss sie 12 Monate reichen, nicht immer rationiere ich gut. Du hättest darüber gelächelt oder mich belächelt, vermutlich. Hoffnung war noch nie dein Konzept, bei dir: drei Essays pro Woche über die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus, bei mir: in den Stuck gestarrte Löcher und ein unfertiges Gedicht.

Das neue Jahr ist nicht ungetragen oder frisch vakuumverpackt. 2022 ist schon jetzt die Summe alter Jahre und ihrer Ausdünste, gesammelt in einer Zip-Lock-Bag, so einer, wie du sie unter der Spüle aufbewahrt hast. In der Küche schmolz Vanilleeis neben eingekochten Birnen. Es ist so, sagte ich, dass das Unrecht nach mehr Aufmerksamkeit verlangt als das, was schon gerecht ist. Stimmt. Aber aufmerksam bleibt nur, wer Hoffnung hat.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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1 Kommentar

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  • Danke. Kann ich gerade brauchen :)