Gedanken beim Containern: Mampf und Kampf

Essen, das sich in den Abfalleimern der Discounter findet, als Mittel im Kampf gegen den Kapitalismus? Warum nicht! Ein Bekenntnis.

Lebensmittel auf einer Zeitung

Leben von der Wegwerfgesellschaft: Essen im Müll Foto: dpa

LEIPZIG taz | Mal wieder tauchte ich gegen zwölf Uhr in die Tiefen der blauen Tonne herab, fischte nach Müll. Je nach Jahreszeit ist das mal mehr, mal weniger hygienisch – im Hochsommer schon grenzwertig widerlich. Im Winter kratzte ich Eis. Gelegentlich flog der Deckel herab, direkt auf meinen Kopf flog er herab. Beinahe wurde die Tonne mein Grab.

Dazu ein Geständnis: Eine Essstörung trieb mich in die Tonne. Ich wollte aus verdrehten Schönheitsidealen nur noch Gemüse essen, hatte Hartz IV und einen Totalschaden. Aber das war nicht die einzige Motivation. Eine Mischung aus Geiz und Postwachstum – selbst der Rest vom Rest muss noch gerettet werden – führte mich hierhin. Ersteres hat sich geändert. Doch das Postwachstum als Antrieb dreht sich noch immer in mir. Genauso wie die Angst vor dem Verteilungskampf: Sind die Tonnen leer, ist es bald das Konto. Dann muss ich zahlen.

Das Problem mit der Hygiene bleibt. Vergammelte Waren einfach mal so in eine Gemüsepfanne zu schmeißen sorgte schon des Öfteren für Schwierigkeiten mit Darm und Peristaltik. Doch man könnte sagen: Ich wäre super fit geworden, wäre allein die Ernährung mit Gemüse und Obst ausreichend, um einen gesunden Körper zu erhalten. Die Biotonne in unseren Breiten ist frei von Fett, Zusatzstoffen und E-Nummern. Ein Bankett für den Gesundheitsfreak, den Veganer und jeden Menschen, der den Einkauf im Supermarkt als Ausstieg aus dem Konsum ablehnt.

Seit zwei Jahren gehe ich containern. Bei den Lebensmitteln, die ich nach Hause trug, bekamen meine Verwandten einen Würgereiz. Für sie war es der Verlust von Würde. Ekel treibt sich die Kehle hinauf.

Wo sind die Tomaten frisch?

Ich bezeichne mich als Expertin. Die besten Uhrzeiten, die Leerungszeiten – alles ist bekannt. Sogar die Mitarbeiterinnen. Aber ob es in Reudnitz die frischesten Tomaten gibt oder in Schleußig der Rotkohl welkt, darf ich nicht verraten. Eine Verpflichtung gegenüber den anderen Containernden verbietet es mir. Schließlich könnten die Filialleiter darauf reagieren, die Tonne verriegeln, Asche über die Lebensmittel streuen, Gift.

Die Angestellten in den Discountern sind je nach Mitarbeiterpolitik wohlgesinnt oder drohend, unverschämt und über die Gewaltgrenze gehend. Netto ist sehr schlecht. Man zog mich heraus, über den Parkplatz, krallte sich an mir fest, rief die Polizei. Heute weiß ich: Netto behandelt seine Angestellten wie Abfall. Das erfuhr ich beim Gespräch mit einigen Angestellten. Bei Penny ist die Politik besser – daher auch ein entspannteres Nebeneinanderherleben von Containernden und den Mitarbeitern, die gerade ihre Raucherpause genießen.

Hinter dem Sammelbegriff und Leitbild verbergen sich verschiedene Ansätze, die ein alternatives Wirtschaftsmodell jenseits steigender Gewinnzahlen anstreben. Gemeinsamer Ansatz ist das Gesundschrumpfen von Konsum und Produktion auf ein dauerhaft tragbares Niveau, das mit den Ressourcen der Erde vereinbar ist.

Beim Containern trifft man auf Lifestyle wie auch auf kompletten Sozialschaden. Es ist ein Schwanken zwischen dem Auflehnen gegen den Kapitalismus und einer persönlichen wie wirtschaftlichen Misere. Bekanntschaften schloss ich beim Containern – oder daran vorbei. Auch hier Verteilungskampf. Mampf. Kampf. Für das Postwachstum, was immer dies sein mag.

Der alte Mann und die Tonne

Von Armut Getriebene gehen an derartigen Szenebegriffen vorbei. Sie treibt die Not. Einen alten Mann traf ich einmal an der Konsum-Tonne. Die zu DDR-Zeiten gegründete Handelskette Konsum ist kein Discounter: kleine, feine abgepackte Waren, häufig geschniegelte und gestriegelte Mitarbeiter, die beherzt – wie das Logo der Kette mit seinem roten Cartoonherz – zugreifen.

Die Angestellten in den Discountern sind wohlgesinnt oder drohend, unverschämt und über die Gewaltgrenze gehend

Jener Rentner ähnelte einem tranigen Kapitän. Seine Haare bildeten einen grauen schmierigen Kranz. Er trug einen besudelten Jogginganzug, zog mit einem Rollwagen herum. Ein paar Tüten hatte er auch. Er war auf Fisch aus. Den bekam er auch: Matjes. Für den Lifestyle in Form von abgepackten Wakame-Algen und Sushi war er nicht offen.

Oft sitzt er betrübt am Rinnstein neben den Tonnen, raucht seine Zigarette. Er spricht nicht mit mir. Warum? Ist er stumm? Geworden durch die Wende, die hier in Ostdeutschland viele Versager übrigließ? Versager im Sinne des Kapitalismus, im Sinne eines würdevollen Lebens, im Sinne der Herzlichkeit. Wer hilft diesen Menschen? Außer der offenen Konsumtonne?

Der Abfalleimer als sozialer Ort

Gott sei Dank ist das Helfernetzwerk in Leipzig sehr gut ausgeprägt: die Obdachlosenheime, soziale Anlaufstellen. Doch wie in Gesamtdeutschland können sie nicht alle auffangen. Wieder andere wehren sich gegen Hilfe aus Verbitterung.

Flirten ist mir an der Tonne noch nicht geglückt. Wobei: Vor Kurzem war es mal fast so weit. Nein, nicht mit dem Rauchschinken einer Firma mit Herzlogo. Auch nicht mit den After-Eight-Blättchen und gefüllten Pralinen. Ein freundlicher junger Mitarbeiter bot mir an, die Lebensmittel für mich herauszufischen. Ich sagte nein: So viel Würde habe ich noch.

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Geiz ist geil ist in unserer westlichen von Reichtum gesegneten Welt eigentlich nicht mehr nötig. Man muss nur findig sein und sich einen breiten Freundeskreis warmhalten. Das Verschenken und Weitergeben von geretteter Ware ist ein Herzensakt, der hier in Leipzig selbstverständlich ist – nicht direkt obligatorisch, eher obligatorisch herzlich.

Wir können hier im Osten froh sein über so viel übriggebliebene „Solidargemeinschaft“. Es ist ein Ineinanderübergreifen der Engagierten – die Foodsaver retten die Lebensmittel direkt aus den Lebensmittelketten, Fleischereien und Gaststätten, während die Containernden die Waren aus den blauen Tonnen ziehen.

Irgendwer gibt immer

Da gäbe es noch die Tafeln, die Waren spenden: anstehen, blauen Zettel herhalten, als Single zwei Euro zahlen und mit vollen Tüten bepackt nach Hause tuckern. Doch die Tafeln seien voll, sodass es kein Reinkommen mehr gibt. Die für den Zutritt notwendigen Tafelpässe würden nicht mehr ausgeteilt, wie ich von einer Tafelinteressentin erfuhr. Das gemeine Volk hält die Flüchtlinge für schuld. Die werden in die Tafelläden hineingelassen. Mit dem Amtsdokument leben sie schon beinahe das Alltagsglück eines Sozialhilfeempfängers.

Ich bevorzuge die Tonne. Wenn man seinen Grundbedarf in der Tonne gedeckt bekommt, gesund ist, fit ist, will ich die restlichen Waren lieber den richtig Bedürftigen lassen. Irgendwer gibt immer – es muss nicht stets das armeöffnende Konsumherz sein.

Gegen den Kapitalismus – für die Herzlichkeit

Was ich bereits in Tonnen gefunden habe – Hochqualitätsprodukte wie Traubenkernöl, Soyasahne, Algen, Shitakepilze, Orangenessig, Säfte, Bioäpfel, Khakis, Mangos, Ananas, feinste Pfirsiche und Blumenkohl, Wirsing, Salate, dicke fette orangestrahlenden Möhren, Fleischberge, Fisch, Blätterteig. Habe ich mein Herz an die Tonne verloren?

Leider verbietet es mir mein Geiz, konkretere Tipps zu geben. Noch mehr Informationen und dann ist sie wieder da: die Angst, die zum Geiz wird. Nicht mehr genug zu erhalten. Top-Secret. Doch Gott sei Dank: Morgen sind die Tonnen wieder voll. Ein Erfolg im Kampf um das Leben, gegen den Kapitalismus. Für die Herzlichkeit.

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