Gaza-Friedensplan: Rückkehr nach Gaza?
Die Palästinensische Autonomiebehörde hat kaum Rückhalt in der eigenen Bevölkerung. Doch nun will sie in Gaza wieder die Kontrolle übernehmen.
Brigadegeneral Anwar Rajab will von seiner Behörde überzeugen. Die Uniform sitzt, auf der Brust reihen sich bunte Abzeichen. „Staat Palästina“ prangt auf dem Ärmel. Der Sprecher des Sicherheitsapparats der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sagt: „Es überrascht Sie vielleicht zu hören, aber unsere Sicherheitskräfte sind in bester Verfassung.“
Für die PA geht es dieser Tage um ihre Zukunft. Gelingt es ihr, aus Ramallah im Westjordanland heraus im Gazastreifen künftig eine Rolle zu spielen? Wenn nicht, dürfte es ihren Weg in die Bedeutungslosigkeit besiegeln. In den 1990er Jahren, während des Oslo-Friedensprozess, entstand die Behörde, sie sollte Vorläufer eines zukünftigen palästinensischen Staates sein. Doch auch die jüngste Welle an internationalen Anerkennungen Palästinas können nicht darüber hinwegtäuschen: Die PA verwaltet derzeit nur noch die letzten palästinensischen Enklaven im israelisch besetzten Westjordanland.
Israels Regierung hat eine PA-Beteiligung in Gaza bisher konsequent ausgeschlossen. Die US-Regierung unter Donald Trump aber scheint – auch unter dem Druck arabischer Staaten sowie seitens der UN-Sicherheitsratsmitglieder Russland und China – anderer Ansicht: Nach einem Reformprozess soll die PA die Kontrolle über Gaza übernehmen. So heißt es in der Resolution zur Absicherung des Gaza-Friedensplans, die der UN-Sicherheitsrat in der Nacht auf Dienstag verabschiedet hat.
Rajab betont vor diesem Hintergrund die Erfolge seiner Leute: „Wir haben mehr als 300 Mitglieder bewaffneter Gruppen festgenommen.“ Er zeigt Fotos beschlagnahmter Sturmgewehre. In Dschenin im Norden des Westjordanlands gebe es heute keine bewaffneten Gruppen mehr.
Flüchtlingslager Dschenin liegt in Trümmern
Das liegt aber weniger an Rajabs Polizisten. Die israelische Armee hat das Flüchtlingslager von Dschenin Anfang des Jahres in weiten Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Noch immer können tausende Bewohner nicht zurückkehren. Die PA-Truppen hatten sich zuvor mehr als einen Monat lang heftige Kämpfe mit militanten Palästinensergruppen geliefert. Rajab sagt, die Israelis hätten seine Leute „die Arbeit nicht beenden lassen“. Tatsächlich kann die PA ohne Zustimmung Israels nicht einmal einen Streifenwagen von Ramallah nach Dschenin schicken.
Viele Palästinenser sehen die PA-Sicherheitskräfte als Erfüllungsgehilfen der israelischen Besatzung, auch weil sie sich mit Israel koordinieren. Rund ein Drittel des PA-Budgets fließt laut dem European Council on Foreign Relations in den Sicherheitsapparat. In den Augen der Palästinenser ist die PA zudem hilflos gegenüber der zunehmenden Gewalt durch radikale israelische Siedler und kann auch den stetigen Ausbau israelischer Siedler nicht aufhalten. Doch nicht nur das: Sie gehe auch mit autoritärer Hand gegen Oppositionelle vor und unterdrücke freie Meinungsäußerung.
Dass die Behörde schon in besserer Verfassung war, dafür reicht ein Blick ins Vorzimmer des Brigadegenerals: Von den Steckdosen ist die Verkleidung abgefallen, die Wände bräuchten einen Anstrich. Über allem hängt ein verblichenes Bild des verstorbenen Palästinenserführers Jassir Arafat, gemacht wurde es in den 1980er-Jahren im tunesischen Exil.
Palästinenser im Abseits
Arafat hatte einst selbst mit tödlichen Anschlägen für einen Palästinenserstaat gekämpft, bevor er die palästinensische Befreiungsbewegung PLO in den 1990er Jahren in Verhandlungen mit Israel führte. Die Verhandlungen scheiterten letzlich, die Palästinenser gerieten international zunehmend ins Abseits, etwa bei Verhandlungen arabischer Staaten über eine Normalisierung mit Israel. Der mörderische Überfall der Hamas vor gut zwei Jahren könnte daran nur kurzfristig etwas geändert haben.
Heute dominiert Israels Militär, unterstützt von den USA, die gesamte Region. Trotz zehntausender getöteter Zivilisten in Gaza und Völkermordvorwürfe ist international und in Israel der Drang nach einer Rückkehr zum Business as usual unübersehbar. In Jerusalem geben sich diplomatische Delegationen seit dem Beginn der Waffenruhe Anfang Oktober die Klinke in die Hand. Deutschland beendet sein Waffenembargo, die Forderungen nach internationalem Druck sind abgeflaut.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat jahrelang die Spaltung zwischen den palästinensischen Fraktionen Hamas und Fatah befördert. Mit ihm werde es „westlich des Jordans keinen palästinensischen Staat geben“, hat Netanjahu jüngst erneut festgestellt. Denn eine geeinte palästinensische Führung könnte als Verhandlungspartner für weitere Gespräche dienen.
Kann die PA Gaza regieren?
Für die PA geht es vor diesem Hintergrund auch um ihre Legitimität bei westlichen Partnern. „Wir sind die einzigen, die mit der Unterstützung internationaler Partner die Dinge in Gaza wieder in Ordnung bringen können“, sagte PA-Ministerpräsident Mohammed Mustafa Mitte Oktober vor Fernsehkameras in Ramallah. Der 71-jährige Technokrat wurde im Frühjahr 2024 eingesetzt, um Reformen anzustoßen. Denn Reformen, so steht es nun auch in der UN-Resolution, sind Bedingung dafür, dass die PA in der Zukunft die Kontrolle über den Gazastreifen übernehmen kann.
Was genau reformiert werden soll, ist allerdings nicht klar – und die Wünsche variieren je nachdem, wen man fragt. Von westlichen Partnern zumindest werden der PA immer wieder der fehlende Rückhalt in der eigenen Bevölkerung vorgeworfen, Korruption, und auch die Verbreitung antisemitischer Inhalte in Schulbüchern oder die Zahlung von Renten an Hinterbliebene von Palästinensern, die Israelis getötet haben.
Der ehemalige Weltbank-Ökonom hat einen Reformprozess eingeleitet, der bisher jedoch den Elefanten im Raum ignoriert: dass die Macht in Ramallah im Grunde nicht bei Mustafa liegt. Wichtige Entscheidungen werden weiter vom 90-jährigen Präsidenten Mahmud Abbas und dessen Vertrauten in der PLO getroffen.
Erst kürzlich hat Abbas für seine Nachfolge seinen Vertrauten Hussein al-Sheikh als Vize eingesetzt. Wann die jüngst versprochenen ersten Wahlen seit 2006 stattfinden sollen, ist offen. Abbas und seine Leute hätten bei freien Wahlen laut Umfragen keine Chance.
Die Pläne für Gaza
Auf dem Weg von Rajabs Büro zur Zentrale der PLO liegt der Sitz des Legislativrats, das einst das Parlament eines palästinensischen Staates werden sollte. Heute hängt am Tor ein Vorhängeschloss. Auf dem Parkplatz vor dem PLO-Gebäude reiht sich ein luxuriöses Auto ans nächste. Drinnen erklärt PLO-Sprecher Wassel Abu Yusef die Pläne für Gaza.
Zunächst müsse die Hamas von internationalen Kräften entwaffnet werden, danach solle schnell der Wiederaufbau für die rund zwei Millionen Bewohner des Küstenstreifens beginnen. Unvorstellbare 37 Millionen Tonnen Schutt sollen die israelischen Angriffe laut UN-Schätzungen hinterlassen haben. Darunter liegen noch immer tausende Tote und nicht explodierte Munition.
Die PA hingegen hat nicht einmal Geld, um ihre Angestellten zu bezahlen. Israel hält die Auszahlung von Steuergeldern zurück, die es für die PA eintreibt – vor dem Krieg waren es rund 250 Millionen Euro pro Monat.
Die Mittel sollen von außen kommen, sagt Abu Yusef, wenn nötig auch ohne direkten Zugriff der PA. „Wir werden keine ausländische Regierung im Gazastreifen akzeptieren“, stellt Abu Yusef allerdings klar. Das widerspricht der Ankündigung von Trump, selbst die Leitung eines internationalen Aufsichtsmechanismus namens „Board of Peace“ übernehmen zu wollen.
Auch das von Abbas zugesagte Ende der Renten für Angehörige von Attentätern scheint alles andere als beschlossene Sache. Man werde die Zahlungen an „unsere Märtyrer“ künftig anders aufziehen, aber nicht einstellen, sagt Abu Yusef. Ein weiteres Hindernis: Die Hamas hat ihre Entwaffnung bisher stets abgelehnt.
Ständig neue Korruptionsfälle
Für die PA sprechen dennoch auch pragmatische Gründe: Trotz der blutigen Vertreibung durch die Hamas 2006 gibt es noch immer zahlreiche Verwaltungsbeamte und Sicherheitskräfte in Gaza, die Ramallah auch unter Hamas-Herrschaft loyal geblieben sind. Mit etwas Training könnten bald 8.000 ehemalige PA-Sicherheitskräfte in Gaza wieder einsatzbereit sein, schätzen Rajab und Abu Yusef.
Abseits der PA-Ministerien in der Innenstadt kann Omar Assaf nur darüber lachen, dass sich Rajab und Abu Yusef nun als die rechtmäßigen Vertreter der Palästinenser aufspielen. „Wir leben in einer Diktatur“, sagt der 72-jährige Aktivist und PA-Kritiker, der selbst bereits mehrfach in palästinensischen und israelischen Gefängnissen saß. „Abu Yusef ist qua seines Titels verantwortlich für die nationalen Bewegungen“, sagt Assaf. „Ich wette, er würde keine hundert Leute auf die Straße bringen.“
Stattdessen kämen nun ständig neue Korruptionsfälle zu Tage. Erst kürzlich habe der Leiter der palästinensischen Grenzbehörde versucht, nach Albanien zu entkommen, um seiner Verhaftung zu entgehen. Anfang Oktober sei zudem der Verkehrsminister von PA-Chef Mustafa abgesetzt worden, erzählt Assaf weiter, nachdem er eine Million Dollar nach Kanada geschickt habe. Dass es dennoch ruhig bleibe, liege neben Angst auch an der Abhängigkeit vieler Familien. Fast 300.000 Menschen erhalten Lohn oder Renten von der PA.
In Gaza, wo Israels Truppen noch immer mehr als die Hälfte des Gebietes besetzten, droht derweil die Gefahr des Stillstandes. Die temporäre „gelbe“ Rückzugslinie könnte wie so vieles in diesem Konflikt dauerhaft werden. Doch gleichzeitig heißt es im US-Entwurf für den Sicherheitsrat erstmals, nach einer PA-Reform und dem Wiederaufbau des Küstenstreifens „könnten die Voraussetzungen für palästinensische Selbstbestimmung und Staatlichkeit gegeben sein“.
So vage das klingt: Offenbar akzeptiert die US-Führung damit die zentrale Bedeutung eines politischen Horizonts für die Palästinenser. Sollte es trotz aller Hürden gelingen, Gaza unter internationale Verwaltung zu stellen, könnten sich neue Möglichkeiten eröffnen.
Mitarbeit: Abed Qusini
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