Fußballprofi gegen Lohnverzicht: Walden-Momente in der Bundesliga
Sebastian Polter vom 1. FC Union Berlin stellt sich gegen das Dogma vom Gehaltsverzicht. Ist das schlimm?
E in Mann ist reich im Verhältnis zur Zahl der Dinge, auf die er verzichten kann, schreibt Henry David Thoreau, Vorbild einer Bewegung, die sich Minimalismus nennt. Thoreau ging, in einem Jahrzehnt, als der Irrsinn des industriellen Zeitalters gerade erst erwachte, in den Wald von Massachusetts, baute sich eine Hütte am Walden-See und verfasste anschließend ein Loblied auf das einfache Leben in der Natur.
Die Lektüre des Walden-Büchleins, das er schon 1854 schrieb, scheint in den Wochen von Corona nicht nur in Kreisen wohlstandsmüder Sinnsucher verbreitet zu sein, auch die Sportwelt und hier insbesondere die Mover und Shaker in den Sportklubs, scheinen plötzlich viel von Entsagung und Verzicht zu halten.
Es geht ihnen nicht darum, auf liebgewonnene Gewohnheiten zu verzichten und den ganzen überflüssigen Tand loszuwerden, sie delegieren vielmehr den Willen zur Reduzierung auf andere, zuerst auf ihre Angestellten, die Thoreau womöglich für ein aufstrebendes Talent aus den Reihen von Paris St. Germain halten und überhaupt der Meinung sind, ein Mann sei reich im Verhältnis zur Zahl der Dinge, die er anhäufen kann.
Mag sein, dass auch Sebastian Polter so denkt wie vielleicht 90 Prozent seiner Kollegen, jedenfalls ist der Angreifer jetzt suspendiert worden vom 1. FC Union Berlin, weil er nicht so richtig auf sein Gehalt verzichten wollte. Es heißt, Polter verdiene 1,5 Millionen Euro im Jahr. Das macht im Monat das hübsche Sümmchen von 125.000 Euro. Union Berlin, wie alle Sportklubs hart getroffen vom viralen Geschehen, hatte sich ausgedacht, seine Kicker in einen ausgeklügelten Solidarpakt einzubinden: Wer nur läppische 10.000 Euro im Monat verdient, soll auf zehn Prozent seines Gehalts verzichten, wer bis zu 15.000 Ocken einstreicht, gibt zwanzig Prozent ab – und die Großverdiener ab 20.000 Euro sogar 30 Prozent.
Moralische Entrüstung
Polter hatte wohl das Gefühl, nach Massachusetts in eine Kate ohne Strom versetzt zu werden – und weigerte sich. In äußerster moralischer Spreizung echauffierte sich Union-Präsident Dirk Zingler in einer Pressemitteilung über diesen Akt der Renitenz: „Es gehört zu den elementaren Werten des 1. FC Union Berlin, dass wir Unioner eine solidarische Gemeinschaft bilden, in der wir füreinander und für unseren Verein einstehen“, schrieb er. Und nur dieser Polter schere „als einziger Spieler der Lizenzspielerabteilung“ aus, gefährde den „Zusammenhalt aller Klubmitarbeiter“.
Anstelle dieser Befindlichkeitsprosa, die wegen Corona um sich greift wie ein, nun ja, besonders ansteckender Virus, hätte Zingler auch schreiben können: Uns geht wegen der Lockdown-Krise die Kohle aus, weswegen wir an der Alten Försterei nicht der Meinung sind, uns an bestehende Verträge halten zu müssen; wer nicht mitzieht und komplett nach unseren Regeln spielt, fliegt raus. Polter, der Union eh nach dieser Saison verlässt, steht jetzt als uneinsichtiger Raffzahn da, aber irgendwie auch als Last Man Standing, als ein Profi, der ein vorsichtiges „Ja, aber…“ in den breiten Konsens des Verzichtenmüssens hineinraunt.
Das mag merkwürdig sein, bestimmt auch unangebracht und unzeitgemäß, aber paradoxerweise leistet Polter anderen, weniger privilegierten Profis, also Handballern, Eishockeyspielern oder Volleyballerinnen, solidarisch Schützenhilfe. Die Eishockeyspieler zum Beispiel sollen in der kommenden Saison pauschal auf 25 Prozent ihres Gehalts verzichten. Tun sie es nicht, bekommen die Klubs von der DEL keine Lizenz. Die Rede ist von „Nötigung“ und „Erpressung“. Und auf der anderen Seite von Zwängen, die es nun einmal zu berücksichtigen gelte. Die Zwänge sind eine Realität, die Rechte der Spieler allerdings auch. Sebastian Polter gehört nicht als Millionario und Ichling an den Pranger gestellt, wir sollten ihm zuhören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW