Fußball in St. Petersburg: Die WM braucht diese Stadt
Die Metropole an der Newa steht für Heldenmythen, aber auch für eine ausufernde Korruption. Ein Blick ins neu gebaute Stadion genügt.
Die wahrhaft große Heldengeschichte der Stadt, die bis 1992 Leningrad hieß, ist so unglaublich, dass es den Besuchern schier die Sprache verschlägt, wenn sie das Museum der Verteidigung und der Blockade Leningrads besuchen.
871 Tage hat die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Stadt belagert, sie buchstäblich ausgehungert und so eine der größten Kriegsverbrechen der Geschichte begangen. Eine Million Menschen sind in Leningrad verhungert. Bis heute wird kein Leningrader ein noch so kleines Stückchen Brot wegwerfen, bis heute bestimmt die Erinnerung an die Blockadetage das Bewusstsein der Stadt.
Legenden werden daraus gestrickt. Eine sagt, dass sich das Erbgut der Leningrader durch die Hungerjahre verändert habe. Petersburger seien besonders klug und widerstandsfähiger als andere Russen.
Empfohlener externer Inhalt
WM 2018 – Die Spielorte
Wladimir Wladimirowitsch Putin ist Petersburger. Das lässt niemand unerwähnt, der diese Legende verbreitet, ganz gleich, was er von der Geschichte hält. Wladimir Putin regiert von Moskau aus sein Land, doch seine Stadt hat er nie vergessen.
Irrwitzige 472 Meter hoch
Über den halbstaatlichen Energiekonzern Gazprom, der in St. Petersburg seinen Firmensitz hat, nimmt er Einfluss auf die Politik etlicher Nachbarstaaten. Wie ein drohender Finger ragt das Lakhta Center, in das die Konzernführung bald einziehen wird, im Norden der Stadt an der Ostsesküste in den Himmel.
Irrwitzige 472 Meter ist der Turm hoch, von dem keiner so genau weiß, was er kostet. Vom WM-Stadion, das nicht weit weg vom neuen Wahrzeichen der Stadt liegt, weiß man das auch nicht. Von umgerechnet 800 Millionen Euro ist die Rede. Die Arena ist längst zum Sinnbild für Korruption in der Stadt geworden.
Doch auch wenn jeder weiß, dass etliche halbseidene Geschäftsleute, die zu der Petersburg-Connection des Staatspräsidenten gehören, sich bereichert haben an dem Projekt, so ist es doch für die Fußballfans der Stadt zu einem regelrechten Magneten geworden.
Fast 44.000 Zuschauer sind in der abgelaufenen Saison zu den Spielen von Zenit St. Petersburg gekommen, obwohl der Klub eine verhältnismäßig miese Spielzeit hingelegt hat und am Ende nur Fünfter war. Ins alte Stadion auf der Petrowski-Insel unweit der prachtvollen Mitte der ehemaligen Hauptstadt waren im Schnitt nur 18.000 Besucher gekommen.
Die Fußballleidenschaft der Petersburger ist durch das neue Stadion noch einmal kräftig befeuert worden. Wer in die Arena kommt, wird sich wundern, dass die Zwischendecken im teuersten Stadion der Welt alles andere als eben sind, dass die wuchtigen Stahlträger des Dachs schon ein Jahr nach der Eröffnung unübersehbare Rostspuren tragen und dass die Parkplätze vor dem Stadion nach einem Wolkenbruch wie Schwimmbecken aussehen, weil man offensichtlich vergessen hat, Gullis zu installieren. Und so ist sicher, dass dieser Tempel der Vetternwirtschaft in Russland weiter von sich reden machen wird.
Diebstahl von Steuergeldern
Vor allem junge Menschen sind es, die sich nicht damit abfinden wollen, dass über Korruption in Russland so gesprochen wird, als sei es eine Staatsform, die in der Verfassung festgeschrieben sei und gegen die man sowieso nichts machen könne.
Tausende haben in den vergangenen beiden Jahren in der Stadt gegen den organisierten Diebstahl von Steuergeldern demonstriert, nachdem der Blogger und Antikorruptionsaktivist Alexej Nawalny dazu aufgerufen hatte. Hunderte Protestierende wurden festgenommen, darunter jede Menge Jugendliche.
Die Verabredung mit einem 16-jährigen Schüler, der sich schon etlichen Male nach Demonstrationen in Polizeigewahrsam wiederfand, platzt. Der junge Mann ruft aus einem Polizeiwagen an. Man habe ihn gerade wieder festgenommen, sagt er, es könne später werden. Am Ende platzt der Termin ganz. Einen Fußballfrieden scheint es nicht zu geben in Russland. Ungeniert tut die Staatsmacht, was sie immer tut.
Die Fans aus Brasilien, die den Newski-Prospekt, die schicke Einkaufs-, Party- und Flaniermeile der Stadt, vor dem Spiel gegen Costa Rica fluten, werden sich darüber keine Gedanken machen. Sie promenieren die ganze weiße Nacht auf den breiten Trottoirs und freuen sich, dass es nicht wirklich dunkel wird.
Weil auch die Petersburger ihre hellen Mittsommernächte im Freien verleben wollen, ist es in diesen Tagen noch voller in der Stadt als üblich. Die Innenstadt scheint aus allen Nähten zu platzen.
Sich selbst genug
Eines ist schnell offensichtlich. Die Stadt braucht die Weltmeisterschaft nicht. Sie ist sich selbst genug in ihrem Stolz auf die schmucken Bauten, die goldenen Kuppeln der Kirchen und Klöster, die wohlgestalteten Gärten und Paläste aus der Zarenzeit.
Eher ist es umgekehrt. Die Weltmeisterschaft braucht eine Stadt wie St. Petersburg – für Bilder mit Fans vor historischer Kulisse. Das gelbe Trikot der Brasilianer macht sich ganz gut vor dem hellen Grün des Winterpalastes.
Vor dem riesigen Nobelkaufhaus Gostiny Dwor auf dem Newski-Prospekt schreit ein mäßig begabter Entertainer unter einem Baldachin in Fifa-Farben. Er möchte Passanten zur Teilnahme an einem albernen Fußballquiz animieren.
Die einheimischen Passanten ziehen nicht so recht mit. Die Gäste aus Brasilien, die sich um den Stand mit dem aufdringlichen Moderator drängen, würden wohl schon wollen. Sie müssen ja auch noch einen ganzen Tag hinter sich bringen, bis ihr Team wieder spielt. Weil sie kein Russisch können, bleibt ihnen die Heldenrolle als Quizkönig versagt. Ihre Helden haben am vergangenen Freitag gegen Costa Rica gewonnen. Mit 2:0 – in der Nachspielzeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen