So war unsere Euro
Die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland ist vorbei, das Finale ausgespielt. Zeit, zu räsonieren, was in diesen vier Wochen passiert ist. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter der Euro-taz schreibt über „meinen EM-Moment“
Hautnah durch Europa
Die Deutschen sind außer Rand und Band ob der Leistungen der DFB-Kicker. So sagten sie es im Fernsehen und zeigten dann Jubelszenen aus irgendwelchen Fanzones. Mit der deutschen Elf hatte ich anfangs wenig zu tun, es waren für mich Nachrichten wie aus einer anderen Welt. Auf dem Weg zu den Stadien drückte ich mich in Nahverkehrsbahnen voller Schweizer, Schotten, Türken, Georgier, Slowenen, Engländer und so weiter und so fort. Eine hautnahe Europareise. Als ich mich schließlich von meiner Unterkunft in Karlsruhe zum deutschen Viertelfinale nach Stuttgart aufmachte, füllten fast nur Menschen in den Zwanzigern den Regionalzug. Viele waren zum Public Viewing dort auf dem Weg, den sie sich mit exzessivem Alkoholkonsum verkürzten. Beeindruckt von dem homogenen Bild, schrieb ich meinem Sohn, ebenfalls Twen. So läuft das in Berlin schon seit Wochen, antwortete er. Wenn man mitten im Turnier ist, erfährt man manches erst später.
Johannes Kopp, Leibesübungen-Redakteur der taz und in den vergangenen Wochen EM-Reporter
Der echtere Wusiala
Das Tor des 16-jährigen Lamine Yamal gegen Frankreich, weil es so ein Pelé-1958-Moment war. Die Ahnung, dass das hier die Geburt einer Legende sein muss oder der erste Akt einer großen Tragödie. Ein Tor, bei dem Pedri auf der Tribüne der Mund offen steht. Eine Flugbahn wie ein Kunstwerk. Überhaupt die Spanier, die bei einer pragmatisch-freudlosen Taktik-EM die Fahne des schönen Spiels hochgehalten haben – nicht nur mit den vielgelobten Williams und Yamal, dem echteren Wusiala, sondern auch mit Cucurella, Rodri, Olmo. Wenn nämlich ein Moment länger als eine Minute dauern darf, dann war der beste Moment das vorgezogene Finale gegen Deutschland. Der überbordende Irrsinn eines lustvollen Fußballs, obwohl doch die analytische Hirnhälfte seit 40 Minuten ein logisches Narrativ für den spanischen Sieg strickt, schießt Wirtz in der 89. Minute den Ausgleich, und dann straft Mikel Merino in der 119. Minute auch dieses neue Narrativ wieder Lügen. Geh schlafen, Hirnhälfte! Fußball zum Verlieben. Sondererwähnung: dieser wahnsinnige Krake Mamardaschwili und seine furchtlosen Georgier, jederzeit.
Alina Schwermer gehört zum Team des Leibesübungen-Ressorts und war Teil des Redaktionsteams der Euro-taz
Unter Fans
Über drei Millionen Fans haben die 51 EM-Spiele besucht, und logisch, nicht alle waren so supergut drauf wie diese beiden Dänen, die mich in Stuttgart dingfest gemacht haben. Ein paar Engländer und Serben haben während des Turniers Fäuste und Stühle fliegen lassen, aber die meisten Fans, die nach Deutschland gekommen sind und die ich gesehen habe, benahmen sich wie Besucher eines, nun ja, Helene-Fischer-Konzertes: Als Nettosteuerzahler, mit leichtem Schmerbauch bewehrt, konnten sie sich die Chose leisten. Doch zurück zu den Dänen. Sie interessierten sich aus einem mir nicht erfindlichen Grund für meine Akkreditierung, die um meinen Hals baumelte. Sie stellten mich, griffen sich das in Plastik eingeschweißte Teil und zogen mich damit auf, dass das Teil gefälscht sein müsse, denn darauf sei ich nun wirklich nicht zu erkennen. „Hier ist ein Betrüger“, riefen sie laut in Richtung Ordner, „überprüft den!“ Ich musste ihnen recht geben: Auf dem Schnappschuss trug ich eine Brille und sah insgesamt frischer aus. Während der EM, die man als Lohnschreiber am Fließband verbringt, verliert man an Spannkraft. Ich versuchte sie zu überzeugen, aber sie foppten mich noch eine halbe Ewigkeit. Ich konnte ihnen ihre etwas trunkene Anmache nicht übelnehmen, oder sagen wir so: nur ein bisschen. Ich zog die Sonnenbrille ins Gesicht: „Passt es den Herrschaften nun?!“ Yes, yes, you’re welcome, exceptionally!
Markus Völker ist Redakteur der Leibesübungen und war für die Euro-taz als Reporter in den EM-Stadien unterwegs
Kuss aus der Ferne
Wer selbst mal auf dem Platz stand, kennt es: Ein paar Meter vor dem Sechzehner bekommt man den Ball zugespielt. Die Abwehr des Gegners steht aber kompakt. Es tut sich kein Raum auf für den entscheidenden Steckpass. Entweder man passt noch mal nach links oder nach rechts. Oder man hält voll drauf! Im Amateurbereich fliegt der Ball dann meistens über einen Achtmeterzaun auf eine Kreuzung. Bei den Profis, vor allem bei dieser EM, verhält es sich natürlich anders. Ja, dieses Turnier ist eines der Weitschusstore! Welches ich nicht mehr aus dem Kopf bekomme: Im Halbfinale gegen Frankreich landet der Ball in der 21. Minute vor dem 16-Jährigen Spanier Lamine Yamal. Der hat sechs abwehrende Franzosen vor sich. Er passt den Ball aber nicht noch mal quer. Er hält voll drauf! Mit viel Gefühl aus 25 Metern. Der Ball küsst erst den linken Innenpfosten und das Netz zum 1:1. Mein Moment der Euro.
Volkan Ağar, Redakteur bei taz2, während der Euro-taz ausgeliehen an das Sportressort
Revolutionär übers Tor
Ein offensichtlicher Gockel stellte sich beim Spiel Portugal gegen Frankreich (3:5 n. E.) recht breitbeinig auf, um das zu tun, was er immer tut: Freistoß schießen. Doch ein anderer Spieler, Bruno Fernandes, trat einfach statt Cristiano Ronaldo gegen den Ball. „Das Alte stirbt, und das Neue kann nicht zur Welt kommen.“ So charakterisierte schon 1930 der italienische Marxist Antonio Gramsci eine revolutionäre Situation. Entsprechend schoss Fernandes über das Tor. Gramsci ergänzte: „Es ist die Zeit der Monster.“
Martin Krauss, Leibesübungen-Autor seit einer gefühlten Ewigkeit und Redakteur in der Euro-taz
Von wegen Vaterland
Ein Public Viewing direkt neben dem Stadion des eigenen Vereins? Ein Traum für viele deutsche Fußballfans, aber nicht für die linke Szene aus St. Pauli. „Vereinsliebe statt Vaterlandsliebe“ hieß es auf einem Transparent am Millerntor. Das kam allerdings nicht bei allen gut an. Muss ja auch nicht. Selbst in progressiveren Kreisen mehrt sich die These, ein bisschen Patriotismus sei schon okay, man dürfe ja Schwarz-Rot-Gold nicht den Rechten überlassen. Und daher ist es schon in Ordnung, dass die Südkurve auf St. Pauli stabil bleibt und einen linken Gegenpol bildet. Ab August können die „Ultras Sankt Pauli“ konsequente, linke Themen in die Bundesliga tragen. Die Kritik daran, von wegen Doppelmoral, halte ich für nicht zielführend – die Bundesliga ist mit den Kiezkickern besser dran als ohne. Für mich als Bundesliga-Fan und EM-Skeptiker ganz klar mein Moment der „Heim-EM“.
Fridolin Haagen schaut im Jahr über 50 Fußballspiele live im Stadion. Er war Praktikant im Team der Euro-taz
Mann unter Männern
Irgendetwas war komisch. Draußen in den ovalen Gängen unter den Tribünen des Olympiastadions war alles noch irgendwie normal gewesen. Orange Niederländer und Niederländerinnen mit mehr oder weniger blöden Kopfbedeckungen, Fans der Türkei in Trikots mit dem Halbmond, dazwischen ein paar deutsche EM-Besucher und Besucherinnen in Leibchen von Klubs aus Käffern mit drollig-deutschen Namen. Normale Fußballverrücktheit neben extremer. Auch der Wolfsgruß war immer präsent. Doch damit war eigentlich zu rechnen gewesen. Aber hier unten in den Arbeitsräumen für die akkreditierten Medienschaffenden, da stimmte irgendetwas nicht. Nur was? Am Ende einer langen Reihe mit Arbeitsplätzen saß eine Kollegin. Das war es! Am anderen Ende des sogenannten Medien-Hubs arbeitete eine weitere Kollegin. Und sonst? Nur Männer. Dutzende. Was für eine Männerwelt! Und ich mittenmang. Auch ein Mann. Mannomann!
Andreas Rüttenauer, meist stubendiensthabender Redakteur der Euro-taz