Fußball-EM in Deutschland: Ein Spielfeld des Kulturkriegs
Die Organisatoren der Fußball-EM wollen an die WM-Erzählung vom weltoffenen Deutschland 2006 anknüpfen. Vieles daran ist schräg.
![Ein großes Plüschtier mit der Aufschrift 24 und ein Mann daneben. Philipp LaHm Ein großes Plüschtier mit der Aufschrift 24 und ein Mann daneben. Philipp LaHm](https://taz.de/picture/6621517/14/33819029-1.jpeg)
„Es ist Zeit für eine Zeitenwende im deutschen Fußball. Und in der Gesellschaft“, schreibt Philipp Lahm, Geschäftsführer der DFB Euro GmbH, in einem Gastbeitrag für den Kicker mit Blick auf die EM in Deutschland. Das Turnier müsse als „Wendepunkt“ begriffen werden, „für Europa, für die Gesellschaft, für uns alle“.
Das Turnier sei „ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein Wiedererstarken des europäischen Gedankens. Europa und seine wichtigen Werte wie Demokratie und Freiheit, Vielfalt und Toleranz, Integration und Inklusion sollen dabei gestärkt und gefeiert werden. Denn ein Ausgrenzen ist nicht das Modell des 21. Jahrhunderts in Europa.“
In ähnlicher Weise äußerte sich Lahm nun in seiner Grußbotschaft an die Teilnehmer der Gala der Deutschen Akademie für Fußballkultur in Nürnberg, wo auch Nürnbergs Zweite Bürgermeisterin Julia Lehner (CSU) das Mikrofon ergriff.
Sie hoffe, dass man bei der EM endlich wieder Nationalstolz zeigen könnte, so wie im Sommer 2006. Lehner riet den Anwesenden: „Nicht immer auf das 20. Jahrhundert gucken.“
Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit und Aufbruch zu neuen Ufern hatte man sich auch von der WM 2006 erhofft. Tatsächlich war das Ausland damals begeistert von den „neuen Deutschen“. „Alles in allem sind sie nicht so schlecht“, resümierte die Times. Der Guardian attestierte dem Ausrichterland, eine „grundlegende Veränderung“ durchgemacht zu haben.
Das Sommermärchen war nicht nur bunt und offen
Nur die österreichische Kronenzeitung befürchtete, die deutsche Weltoffenheit würde nicht von Dauer sein: „Sie werden statt Freunden zu Gast wieder zu viel Ausländer im Land haben.“
Nur bunt und weltoffen war das Sommermärchen ohnehin nicht. In der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ gelangten der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer und sein Team zu dem Ergebnis, dass es rund um die WM zu einer Zunahme „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ gekommen sei.
Im Osten gab es „No-go-Areas“, für den ausländischen Besucher war das freilich nicht spürbar. Denn die einzige ostdeutsche Austragungsstadt war Leipzig.
Philipp Lahm meint es gut, und Julia Lehner ist keine Rechte. Mensch kann ihre Statements auch als Hilferufe lesen.
2006 saß keine AfD im Bundestag
Beide wissen, dass die Voraussetzungen für ein Sommermärchen 2.0 nicht die besten sind. Das Land hat sich verändert, Europa ebenfalls. Im Sommer 2006 gab es noch keine rechtsextreme Partei im Bundestag, die aktuell in der Wählergunst auf Platz zwei liegt. Europa wirkte geeinter und demokratischer als heute.
Großbritannien war noch in der EU, in Polen und Ungarn herrschten noch Rechtsstaat und Gewaltenteilung, Italien wurde noch nicht von einer Postfaschistin regiert. Es ertranken noch nicht Tausende von Flüchtlingen an der Außengrenze Europas. Russland hatte noch nicht die Krim besetzt und die Ukraine überfallen.
Dass das Europa von damals nicht mehr das Europa von heute ist, deutete sich erstmals bei der EM 2016 an, als russische Hooligans in Marseille englische Fans verprügelten. Die durchtrainierten Burschen genossen die Unterstützung von Teilen der russischen Politik und des russischen Fußballverbands.
Für Igor Lebedew, damals stellvertretender Präsident des russischen Parlaments und Vorstandsmitglied des russischen Fußballverbands, hatten die Hooligans „die Ehre ihres Landes verteidigt und es den englischen Fans nicht gestattet, unser Land zu entweihen“. Lebedew wollte dem Westen vorführen, wie wehrlos und verweichlicht seine multikulturellen und liberalen Gesellschaften seien.
Uefa beugte sich Orbán
Dazu passte auch ein Statement von Wladimir Markin, Leiter der Presseabteilung des einflussreichen Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, einer mit dem US-amerikanischen FBI vergleichbaren Behörde. Das Problem der französischen Polizisten sei, dass sie überrascht wären, wenn sie auf einen Mann träfen, der so aussieht, wie ein Mann aussehen sollte. Die Polizisten seien einfach zu sehr an schwule Mannsbilder gewöhnt – wegen der vielen Schwulenparaden in Frankreich.
Ein Turnier später verhinderte die Uefa, dass beim Spiel Deutschland gegen Ungarn die Münchner Arena in den Farben des Regenbogens erstrahlte – ein Kotau vor dem Partner und Autokraten Viktor Orbán, dessen Politik auf fünf Säulen steht: Nationalismus, christlicher Fundamentalismus, Rassismus, Korruption und Fußball.
Seit 2016 ist die EM auch ein Spielfeld des Kulturkriegs zwischen Autokraten und den Befürwortern der liberalen Demokratie.
Philipp Lahms Europa gibt es nicht. Was „europäische Werte“ sind, darüber existieren fundamental unterschiedliche Meinungen. Wenn Lahm das Turnier dazu nutzen will, demokratische und liberale Werte hochzuhalten, ist das gut. Nur muss ihm klar sein, dass dies nur als innenpolitische und innereuropäische Kampfansage Sinn macht.
Den „Partypatriotismus“ von 2006 gibt es ebenfalls nicht mehr. Julia Lehner sollte die Beschwörung deutschen Nationalstolzes tunlichst unterlassen.
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