Friedensforscher zur Atomwaffendebatte: „Wir sind wieder im atomaren Wettrüsten“
Eine Rüstungskontrolle ist kaum mehr möglich, sagt Friedensforscher Ulrich Kühn. Die Eskalation um US-Atom-U-Boote bereitet ihm aber keine Sorgen.

taz: Herr Kühn, Sie haben dazu geforscht, warum Russland entgegen vielfachen Androhungen in der Ukraine bislang keine Atomwaffen eingesetzt hat. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Ulrich Kühn: Eine überzeugende singuläre Antwort habe ich bislang leider nicht gefunden.
taz: Machen Sie sich Sorgen nach der jüngsten Ankündigung von US-Präsident Trump, Atom-U-Boote in die Region Russlands zu entsenden?
Kühn: Nein, ich mache mir keine Sorgen. Trump versteht scheinbar nicht, wie die amerikanische nukleare Abschreckung funktioniert. Von den strategischen U-Booten der USA sind ohnehin permanent vier bis fünf auf See. Man muss sie nicht in Position bringen, wie es Trump nun gesagt hat. Das ist totaler Unfug.
taz: Wie erklären Sie sich dann das nukleare Säbelrasseln?
Kühn: Das ist unverantwortliches rhetorisches Gepolter. Trump benutzt hier eine der extremsten Formen, jemandem zu drohen. Das Ganze ist ja entstanden, weil Dimitri Medwedjew ihn als „Opa“ bezeichnet hat. Der US-Präsident hätte Medwedjew als unwichtige Figur im russischen Schmierentheater auch links liegen lassen können – aber er hat sich provozieren lassen.
taz: Also: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass Russland vor dem tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen im Ukrainekrieg zurückschreckt?
Kühn: Es gibt drei gute Kandidaten für eine Erklärung. Eine Möglichkeit wäre: Die Russen hatten nie vor, Nuklearwaffen einzusetzen. Es könnte ihnen vielmehr nur darum gehen, Ängste zu schüren und die Strategien im Westen zu manipulieren.
Kühn: Man muss mit solchen Aussagen immer vorsichtig umgehen. Trotzdem sollte man sich die Einschätzung auf der Zunge zergehen lassen: Wenn ein ernstzunehmender Wissenschaftler damals gesagt hätte, die Chance für einen russischen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine liege bei 5 Prozent – niemand hätte auf den vermeintlichen Panikmacher gehört. Und dann lesen wir eine Analyse, die mutmaßlich von der CIA stammt, und die von 50 Prozent ausging. Das ist schon heftig.
taz: Und Ihr zweiter Erklärungsansatz?
Kühn: Der würde zu dem von Ihnen erwähnten Artikel passen. Die zweite Möglichkeit wäre, dass es auf der russischen Seite tatsächlich Überlegungen gab, taktische Nuklearwaffen in der Ukraine einzusetzen, und dass das Risiko durch die USA gebannt wurde – durch militärischen Druck auf der einen und direkte Gespräche mit Russland sowie China und Indien auf der anderen Seite.
taz: Fehlt noch die dritte mögliche Erklärung.
Kühn: Dass das Ausbleiben eines Nuklearwaffeneinsatzes ein Zusammenspiel aus glücklichen Fügungen war. Als besonders brisant gilt der Spätsommer 2022, als die ukrainische Armee Russland zum Rückzug aus der Provinz Cherson drängte. Recherchen zeigen, dass die Ukrainer damals kurz davor gestanden haben könnten, 30.000 russische Kräfte auf einmal festzusetzen und dann eventuell bis zur Krim durchzumarschieren. In Moskau soll es Erwägungen gegeben haben, einen solchen Vorstoß der Ukraine mit Atomwaffen zu verhindern. Es gibt deshalb Vermutungen, dass das Weiße Haus die Ukraine von einem weiteren Vormarsch abgehalten habe. Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass dafür diverse ukrainische Befehlsstellen hätten involviert sein müssen, von denen man sicherlich bis heute etwas darüber gehört hätte.
taz: Warum stellt sich jemand wie Kremlsprecher Dimitri Peskow dann wieder hin und sagt: Wenn eine Atommacht die Ukraine zum Angriff auf Russland „anstiftet“, dann könne Moskau auch Atomwaffen einsetzen.
Kühn: Das sagt uns, dass Russland nicht aufhören wird, die nukleare Karte zu spielen. Es ist ein Spiel mit der Ungewissheit. Russland wird weiter drohen und darüber versuchen, Einfluss zu nehmen.
taz: Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass es noch zu einem russischen Einsatz von Atomwaffen kommen könnte?
Kühn: Ich halte mich an das, was ich am Anfang des Krieges der New York Times gesagt habe: Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gleich null. Das mag sich jetzt ein bisschen spitzfindig anhören, aber wir haben es hier mit einer nuklear bewaffneten Macht zu tun. Daher kann man das nicht komplett ausschließen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich die Möglichkeit aber für sehr niedrig erachten. Es ist jedoch nicht undenkbar, dass dieser Krieg noch eine weitere dramatische Wendung nimmt. Für autokratische Herrscher gilt, dass alles noch unangenehmer werden kann, wenn sie sich persönlich in die Ecke gedrängt fühlen. Und das gilt auch für Wladimir Putin. Was, wenn eine Clique aus Militärs, Geheimdiensten, Politikern beschließt, dass es ihnen mit Putin zu prekär wird? Wenn er um seine eigene Zukunft bangen muss, könnte ich mir vorstellen, dass die Wahrscheinlichkeit für eine nukleare Eskalation steigt.
taz: Würden deutsche Nuklearwaffen Europa sicherer machen?
Kühn: Eine spannende Frage. Ich habe bisher keine relevante Stimme in Europa vernommen, für die deutsche Nuklearwaffen ihr schlimmster Albtraum wären. Aber ich habe auch noch niemanden gehört, der das ernsthaft vorschlägt – außer CDU-Fraktionschef Jens Spahn, der unter Druck steht durch die Maskenaffäre und die verkorkste Wahl zum Bundesverfassungsgericht.
taz: Dann ist das also nur eine Phantomdiskussion?
Kühn: Die Sicherheit der Bundesrepublik beruht unter anderem auf Nuklearwaffen, und zwar seit die USA sie Mitte der 50er Jahre auf westdeutschem Boden stationiert hatten. Von Adenauer über Brandt, Kohl und Merkel bis Scholz und jetzt Merz: Obwohl es teils deutliche Mehrheiten in der Bevölkerung gegen diese Waffen gab, hat bis heute keine Bundesregierung je den Abzug gefordert. Das zeigt mir, dass die führende politische Klasse die nukleare Abschreckung als zentral für Deutschlands Sicherheit begreift. Das heißt für mich aber auch, dass in dem Moment, in dem die USA ausfallen und vielleicht dann auch noch Frankreich unter einer rechtsradikalen Präsidentschaft steht, wir in Deutschland eine ernsthafte Debatte über deutsche Nuklearwaffen bekommen werden. Das ist für mich das Extremszenario, von dem ich leider sagen muss, dass es nicht mehr so weit entfernt scheint.
taz: Deutsche Atomwaffen wären allerdings sowohl ein Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag als auch den Zwei-plus-vier-Vertrag.
Kühn: Das ist korrekt. Aber unter veränderten Bedingungen können Verträge eben auch hinfällig werden. Allerdings sollten immer auch die Folgen bedacht werden. Denn wenn der Atomwaffensperrvertrag als hinfällig begriffen wird, dann werden auch andere, wie Japan, Südkorea, die Türkei oder die Saudis daraus ihre Schlüsse ziehen. Und rein statistisch gesehen könnte man argumentieren, dass mit der steigenden Zahl der Besitzer auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass irgendwann wieder Nuklearwaffen eingesetzt werden.
taz: Den Iran haben Sie in Ihrer Aufzählung nicht erwähnt. Ist das Thema nach den israelischen und US-amerikanischen Militärschlägen jetzt erst mal erledigt?
Kühn: Nein, das ist es nicht. Ein Atomprogramm wie das iranische lässt sich nicht durch solch eine militärische Intervention beenden. Dafür hätten die USA schon einmarschieren und jeden Stein umgraben müssen, um das sicherzustellen. Die Bombardierungen dürften die Bemühungen Irans eher befördert haben, jetzt möglichst schnell die Bombe zu bekommen.
taz: Der aktuelle Sipri-Bericht konstatiert eine neue Dynamik des weltweiten atomaren Wettrüstens. Teilen Sie diesen Befund?
Kühn: Ja, durchaus. Wir sind wieder in einem atomaren Wettrüsten. Insbesondere die chinesische Seite schreitet mit einer ziemlichen Geschwindigkeit voran, wenn man sich anschaut, wie sie die Anzahl ihrer Nuklearwaffen binnen kurzer Zeit erhöht hat. Das führt zu einer sehr unschönen Dynamik. Im Vergleich zu den USA hat China zwar immer noch weitaus weniger Nuklearwaffen, aber die US-Administration stellt die chinesischen Sprengköpfe in einen direkten Zusammenhang mit dem großen russischen Arsenal und reagiert entsprechend. So entsteht eine gefährliche Rüstungsspirale – diesmal zwischen drei Parteien.
taz: Sehen Sie noch einen Ausweg aus dieser Spirale?
Kühn: Die Menschheit hat bewiesen, dass sie sehr lernfähig sein kann. Deswegen möchte ich die Hoffnung und den Glauben nicht aufgeben. Zum jetzigen Zeitpunkt spricht jedoch leider nicht viel dafür, dass wir aus dieser Dynamik, in der wir jetzt sind, schnell wieder rauskommen. Für die westlichen Demokratien ergibt sich dabei eine zusätzliche Gefahr, weil das Geld, das sie für Rüstung ausgeben, an anderer Stelle fehlen wird. Das gilt insbesondere für den sozialen Bereich. Das jedoch untergräbt den demokratischen Zusammenhalt im Inneren.
taz: Haben Sie den Glauben an Rüstungskontrolle verloren?
Kühn: Ich befürchte, dass wir in eine Phase eintreten, in der klassische Rüstungskontrolle, so wie wir sie aus dem Kalten Krieg kennen, erst mal nicht mehr möglich sein wird. Was ich persönlich hoffe und woran ich forsche, ist die sogenannte verhaltensorientierte Rüstungskontrolle. Das heißt, dass konkurrierende Großmächte erst einmal versuchen, gegenseitig festzuhalten: Was sind bestimmte Verhaltensnormen, die man für akzeptabel oder inakzeptabel hält?
taz: Was meinen Sie damit konkret?
Kühn: Ein Beispiel: Wäre es für die USA eine akzeptable Vorstellung, wenn China die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen komplett an eine künstliche Intelligenz abtreten würde? Und wie fände es umgekehrt China, wenn die USA das machen würden? Ich glaube, da kann man sich auf einen Common Sense verständigen, auf eine gemeinsam geteilte Norm, dass der Mensch hier immer involviert sein muss. Anderes Beispiel: Wäre es eine beruhigende Vorstellung, sich gegenseitig seine Radaranlagen im Weltraum urplötzlich auszuschalten? Es gibt eine Reihe von Sachen, wo die involvierten Politiker und Militärs wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen dürften, dass es besser ist, sich an einen Tisch zu setzen und solche Angriffsoptionen auszuschließen.
taz: Aber wie kommt man dahin?
Kühn: Dazu bedarf es nicht eines riesigen neuen Vertrages, sondern möglicherweise einigt man sich zunächst nur auf eine entsprechende gemeinsame Erklärung. Dann hat man aber schon mal etwas, auf dem aufgebaut werden kann. Allerdings braucht man dafür natürlich Staaten, die ernsthaft auch Diplomatie betreiben wollen und nicht Regierungen, die gerade dabei sind, alle ihre Diplomaten in die Arbeitslosigkeit zu verabschieden, wie es eine gewisse Regierung in Washington gerade tut.
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