Fridays for Future in Hildesheim: Autobahn blockieren erlaubt
„Fridays For Future“ darf eine Fahrraddemo auf der A7 veranstalten. Dafür musste die Gruppe in Hildesheim aber Kompromisse eingehen.
Erst durften sie nicht, mit ein paar Änderungen nun aber doch: „Fridays For Future“ erhält die Genehmigung, mit einer Fahrraddemo auf der A7 bei Hildesheim zu protestieren. Im vergangenen Jahr hatte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die Demo noch untersagt. Nun haben die Aktivist:innen in Zusammenarbeit mit der Stadt Hildesheim und der Polizei einen Kompromiss gefunden. Was bedeutet das für den Protest?
Für Demos und Blockaden auf Autobahnauffahrten steht in letzter Zeit vermehrt die aktivistische Gruppe „Letzte Generation“ in der Kritik. Ihr wird das Blockieren von Einsatzfahrzeugen, Nötigung oder Erpressung vorgeworfen. Justizminister Marco Buschmann nannte die Sitzproteste gar rechtswidrig. Dabei ist die rechtliche Einordnung dieser Protestform juristisch gar nicht so einfach.
An vorderster Stelle steht die Versammlungsfreiheit. Sie ist zwar im Grundgesetz festgeschrieben, kann aber unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden. Eine zentrale Rolle wird bei Straßenblockaden der Zweite-Reihe-Rechtsprechung zuteil. Sie beschreibt das bewusste Aufhalten der ersten Reihe wartender Autos, um nachfolgenden Kraftfahrzeugen eine physische Barriere entgegenzustellen, als Tatbestand der Nötigung.
Bewegen sich die Blockaden im Sinne der Versammlungsfreiheit, ist der Tatbestand der Nötigung zwar noch gegeben, die physische Blockade der Autos ab Reihe zwei ist dann aber nicht mehr rechtswidrig.
Die Autobahn wird offiziell gesperrt
Das Bundesverfassungsgericht schreibt als Vorgabe für die Auflösung solcher Aktionen nach einem Präzedenzfall 2004: „Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand.“
Die Auslegung im Einzelfall ist in einem relativ großen Rahmen möglich. Auch wenn bei den Demos gegen Lebensmittelverschwendung vonseiten der „Letzten Generation“ immer auch die Frage nach dem Sachbezug gestellt wird, argumentiert der Rechtswissenschaftler Tim Wihl in einem Gastbeitrag beim Rechtsmagazin LTO, gerade in der Klimakrise bestehe eine Art „Notstand in Permanenz“. Im Klimanotstand ließe sich der Sachbezug damit begründen, dass der Protestgegenstand in der Gesellschaft allgegenwärtig ist.
Bei „Fridays For Future“ ist es rechtlich sogar noch einfacher. „Der inhaltliche Schwerpunkt der Demonstration liegt auf dem Klimaschutz im Verkehrssektor, wo Deutschland immer noch auf dem Emissionsniveau von 1990 stagniert“, schreibt „Fridays For Future“. Der Bezug zu den im Individualverkehr eingeschränkten Personen ist bei einer Demonstration auf der Autobahn also klar gegeben.
Mit der Einigung mit Stadt und Polizei haben die Aktivist:innen die rechtliche Auseinandersetzung jedoch umschifft: Die Autobahn wird offiziell gesperrt, der Verkehr kann den Bereich mit einem Umweg von etwa zehn Minuten problemlos umfahren.
Demo am Sonntag statt am Freitag
Dass es jetzt eine Genehmigung für den Protest gegeben habe, sei von der Stadt mit der neuen Uhrzeit der Aktion begründet worden, teilt „Fridays For Future“ mit. 2021 war die Demo noch für Freitagnachmittag geplant, jetzt wollen sie stattdessen am Sonntag, den 10. Juli um 9.30 Uhr mit 600 Teilnehmenden am Hildesheimer Hauptbahnhof losradeln. Etwa drei Kilometer geht es über die A7, bis spätestens um 11 Uhr der motorisierte Verkehr wieder ungehindert fahren darf.
Die Route über die A7 habe die Gruppe gewählt, „um unserer Forderung nach einer Verkehrswende mehr Nachdruck zu verschaffen“, sagt Vera Wagner von „Fridays For Future“ Hildesheim gegenüber der taz. Sie erhofften sich auch, neue Teilnehmende mit dieser Protestform anzusprechen. Mit dem Fahrrad über die Autobahn, das gehe schließlich nicht jeden Sonntag.
Dass der Protest an einem Sonntagmorgen auf nicht allzu viele PKW treffen wird und aufgrund der Streckenführung eine Umgehung möglich ist, ist der Preis für die städtische Genehmigung. Klimakrise stoppen ja – aber bitte nur am Sonntag. Immerhin muss sich jetzt niemand mehr mit der Auslegung des Demonstrationsrechts befassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen