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Frankreichs Verfassungsrat für Macrons ReformJuristischer Sieg, soziales Risiko

Der Verfassungsrat hat gegen die Erhöhung des Rentenalters und das Vorgehen der Regierung nichts einzuwenden. Die Gewerkschaften wüten.

Emmanuel Macron hat gut lachen – vorerst Foto: Peter Dejong/dpa

PARIS taz | Die Gewerkschaften und alle Geg­ne­r*in­nen der Rentenreform hatten vom Urteil des Verfassungsrates viel erwartet. Jetzt sind sie total enttäuscht. Nicht nur haben die „9 Weisen“, wie die Mitglieder des Conseil constitutionnel genannt werden, die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 62 auf 64 für verfassungskonform erklärt. Auch an der sehr umstrittenen Methode, diese Vorlage ohne Abstimmung in der Nationalversammlung dank des Artikels 49.3 und anderen fragwürdigen Prozeduren für angenommen zu erklären, hat der Verfassungsrat nichts zu bemängeln. Hingegen haben laut dem Urteil sechs Bestimmungen, die beispielsweise die Beschäftigung der „Senioren“ über 55 in den Unternehmen fördern sollten, nichts in diesem Gesetz zu suchen. Sie werden daher aus der Reform gekippt, die damit nur noch unsozialer wird.

Für alle, die diese Reform ablehnen – und das ist laut Umfragen unverändert eine Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung – ist dieses Urteil eine Ohrfeige. Bereits am Freitagabend wurde in mehr als 200 Städten gegen diesen Entscheid demonstriert. Die Wut ist groß, nur der Druck der Straße kann jetzt noch etwas ändern.

Mit einer unnötigen oder sogar provokativen Eile hat außerdem Staatspräsident Emmanuel Macron noch in der Nacht zum Samstag den Erlass publiziert, mit dem die Reform offiziell in Kraft treten kann und damit ab 1. September die neuen Rentenkonditionen gelten. Nach drei Monaten Konflikt und zwölf Aktionstagen mit mehreren Millionen Streikenden und Demonstrierenden möchte er jetzt aufatmen. Die Gewerkschaften haben sein Angebot, ihn am Dienstag unter diesen Umständen zu einem „Austausch“ zu treffen, empört abgelehnt.

Die Dachverbände der Ar­beit­neh­me­r*in­nen­ver­tre­tun­gen bleiben nach dieser juristischen Niederlage geschlossen, sie rufen zur Fortsetzung der Bewegung auf. Sie wollen, dass am 1. Mai alle auf die Straße gehen, um der Staatsführung zu zeigen, dass sie diese Reform als völlig ungerecht ablehnen. Die neue Vorsitzende der CGT, Sophie Binet, rief dazu auf, ab sofort mit Streiks und anderen Aktionen gegen die Regierungspolitik zu protestieren.

Die Gewerkschaftsführungen wissen, dass sich ihre Basis nicht mit einer Niederlage abfinden will. Sie müssen befürchten, dass die Proteste nun außer Kontrolle geraten. Das Risiko einer sozialen Explosion ist sehr real.

Möglicher Ausweg: Volksabstimmung

Macron habe „einen juristischen Sieg um den Preis eines sozialen Risikos“ errungen, meinte beispielsweise der Politologe Alain Duhamel in einem Kommentar am Fernsehen. Aus Furcht vor Ausschreitungen war der Conseil constitutionnel, der seinen Sitz im Westflügel des Palais Royal in der Nähe des Louvre hat, mit einem massiven Polizeiaufgebot in eine belagerte Festung verwandelt worden, in deren weitem Umkreis jede Demonstration untersagt war.

Noch glauben die Gewerkschaften und die Linksparteien, dass sie mit einer Gesetzesinitiative (Référendum d'initiative partagée), für die 20 Prozent der Par­la­men­ta­rie­r*in­nen und mindestens 10 Prozent aller Wahlberechtigten (fast 5 Millionen) unterzeichnen müssten, eine Volksabstimmung über ein Renteneintrittsalter von 62 Jahren, wie bisher, anberaumen können. Ein erster Antrag dazu wurde jetzt zwar ebenfalls vom Verfassungsrat abgelehnt. Doch Ende des Monats sollen die Verfassungsratsmitglieder über einen zweiten Vorschlag befinden, der laut der oppositionellen Linksunion NUPES geschickter formuliert wurde und bessere Chancen haben soll.

Premierministerin Elisabeth Borne hätte im Fall eines verfassungsrechtlichen Vetos sicherlich ihren Posten verloren. Sie kann sich dementsprechend über das Verdikt der Conseil constitutionnel nur freuen und hat erklärt, dass die Debatte „am Ende des Wegs durch die Institutionen“ angelangt und damit abgeschlossen sei.

Falls der Widerstand jedoch ungebrochen weitergehen sollte und sich nach dem Vorbild der Gelbwesten radikalisiert, hätten Borne und Präsident Macron nur einen Pyrrhussieg errungen. Die Art und Weise, wie er und seine Regierung mit einem als arrogant und undemokratisch betrachteten Vorgehen die Bevölkerung gegen sich aufbrachten, hat die Staatsführung so sehr geschwächt, dass man sich fragen muss, wie Macron die restlichen vier Jahre seines zweiten Mandats überhaupt zu Ende führen kann.

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1 Kommentar

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  • 6G
    659554 (Profil gelöscht)

    "dass man sich fragen muss, wie Macron die restlichen vier Jahre seines zweiten Mandats überhaupt zu Ende führen kann."

    Man muss sich vor allem fragen, was danach kommt. Die Antwort heißt Le Pen. Die leute haben einfach genug von neoliberaler Politik, die sich in der Ära Macron nur durch die noch größere Arroganz von der seiner Vorgänger entscheidet.

    Dass die Deutschen und andere Nationen so naiv waren, für die neoliberalen Rentenkürzungen zum Profit von Superreichen und Konzernen zu stimmen, heißt nicht, dass die Franzosen jetzt genauso dumm sein müssen.