Forscher über Virenübertragung: „Beine und Flügel der Viren“
Die Landwirtschaft hat Einfluss darauf, wie sich Erreger ausbreiten. Das zeigt sich bei einer neuartigen Schweinegrippe in China, sagt Timm Harder.
taz: Herr Harder, inmitten der Coronapandemie haben chinesische Wissenschaftler eine Entdeckung gemacht: In mehreren chinesischen Schweinemastanlagen grassiert wohl ein neuartiges Schweinegrippevirus, das möglicherweise auf Menschen überspringen kann. Der Erreger habe das Potenzial zur Pandemie. Haben wir Grund zur Panik?
Timm Harder: Nein. Eine weitere weltumspannende Pandemie, zeitgleich mit Corona, ist nicht zu erwarten, und das kann auch aus den Ergebnissen der Studie aus China nicht abgeleitet werden.
Die Warnungen der Wissenschaftler sind übertrieben?
Unsere chinesischen Kollegen haben zu Recht ein Ausrufezeichen gesetzt. Sie haben einen neuen Genotyp G4 des Influenzavirus H1N1 bei Schweinen identifiziert, dessen Ausbreitung beobachtet werden muss. Sicherlich müssen wir wachsam sein und Hausschweinepopulationen als Reservoir für sich verändernde Influenzaviren, die vielleicht auf Menschen übertragen werden können, im Auge behalten. Aber die Aussage, dass zehn Prozent der untersuchten Mitarbeiter in den chinesischen Schweinemastbetrieben sich mit dem neuartigen Virus bereits infiziert haben könnten, würde ich doch bezweifeln.
Warum?
Die Chinesen haben den Beschäftigten Blut abgenommen und Antikörpertests gemacht; von 350 Untersuchten zeigten etwa 35 eine positive Reaktion. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Beschäftigten unbedingt mit dem neuen Genotyp angesteckt haben. Wahrscheinlicher ist, dass diese Menschen im Laufe ihres Lebens etliche, vielleicht unbemerkte Grippeinfektionen mit diversen Virenstämmen, die zwischen Menschen zirkulieren und sich jedes Jahr verändern, durchgemacht haben. Daraus ergibt sich eine Basisimmunität, die man anhand der Antikörper nachweisen kann. Die Tests können aber leider nicht völlig verlässlich zeigen, ob sich die Antikörper aufgrund einer Infektion mit ganz normalen, menschlichen Influenzaviren gebildet haben oder aufgrund einer Ansteckung mit der neuen Variante.
Wie gefährlich ist die neue Variante für Menschen?
Timm Harder, Virologe
Wenn wir das wüssten! Influenzaviren haben die Eigenschaft, dass sie ihr Genom untereinander austauschen und vermischen können. Durch diesen Trick schaffen es die Viren, eine unglaubliche Variabilität hervorzubringen. Wir Virologen stehen dann vor dem Problem, bewerten zu sollen, was innerhalb dieser Variationsbreite tatsächlich ein Virus ist, dem man größere Beachtung schenken muss. Anhand der Genomsequenz eines Virus können wir aber nicht schlussendlich sagen, ob das Virus etwa bei Schweinen mehr Lungenentzündungen hervorrufen wird, ob es auch auf den Menschen übertragen werden kann oder wie gefährlich es ist. Eine Vielzahl weiterer Versuche ist hierzu notwendig. Im Fall des neuen G4-Virus haben die Wissenschaftler in China nun herausgefunden, dass G4 offenbar schon recht unterschiedlich ist zu den bekannten Virenstämmen, die zwischen Menschen zirkulieren und gegen die auch geimpft werden kann.
Menschen, die sich mit G4 infizieren, hätten keinerlei Schutz?
Auch das ist zurzeit unklar. Ich betone es aber noch einmal, um hier keine Panik zu verbreiten: Selbst wenn ein Virus vom Schwein auf einen Menschen überspringt, was immer mal wieder passiert, auch bei uns in Europa, heißt das noch lange nicht, dass es anschließend von Mensch zu Mensch weitergegeben wird. In aller Regel endet der Übersprung von Tier zu Mensch für das Virus in einer Sackgasse. Zum Glück.
HIV, Ebola, Corona und die Schweinegrippe – Erreger, die früher nur Tiere befallen haben, sind auf dem Vormarsch. Was läuft schief?
Wer in Lebensräume von Tieren eindringt, riskiert, sich unbekannten Erregern auszusetzen. Machen Sie beispielsweise Urlaub in der Karibik, riskieren Sie, sich mit dem Dengue-Virus zu infizieren, das durch Mücken übertragen wird. Bleiben Sie daheim in Mecklenburg, werden sie auch von Mücken gestochen, die aber kein Dengue-Virus übertragen. So einfach.
Tier-Mensch-Übersprünge sind doch kein ausschließliches Phänomen der Globalisierung.
Stimmt. Allein: Wenn im 19. Jahrhundert in einem imaginären Dorf in den Tropen Viren, beispielsweise von Affen, die vielen schon damals als Fleischlieferanten dienten, auf Menschen übertragen wurden, dann erkrankten vielleicht die Menschen in diesem Dorf. Aber das Virus breitete sich nicht weiter aus, denn dieses Dorf hatte keinen Kontakt zur Außenwelt. Heute gibt es internationale Handelswege, globalisierten Personen- und Warenverkehr und den Klimawandel. Das gibt den Viren und ihren Trägern Beine und Flügel.
Timm Harder
ist Leiter des Nationalen Referenzlabors für Aviäre Influenza am Institut für Virusdiagnostik des Friedrich-Loeffler-Instituts.
Die Lage ist hoffnungslos?
Das sehe ich so nicht. Wir müssen aber unser Verhalten überdenken, insbesondere dort, wo es unvermeidliche Kontaktstellen zwischen Menschen und Tierpopulationen gibt, beispielsweise in der Nutztierhaltung.
Wie genau?
Die landwirtschaftliche Struktur hat Einfluss darauf, wie sich Erreger in Tierpopulationen ausbreiten. Bei der Produktion von Schweinen sehen wir weltweit einen Trend zu teilweise sehr großen Haltungen. Forscher in Dänemark konnten jetzt zeigen, dass sich Influenzaviren in großen Schweinebeständen verstetigen können. Sie bleiben dort über Monate oder Jahre hinweg und entwickeln sich weiter, so dass die Gefahr besteht, dass jeder dieser Bestände am Ende ein eigenes Influenzavirus hat.
Mit welchen Folgen?
Bis Ende der 1990er Jahre verlief die Grippevirusinfektion beim Schwein ähnlich wie heute noch beim Menschen. Es war eine saisonale Erkrankung. Wenn das Wetter im Herbst schlechter wurde, fingen die Schweine an zu husten. Aber nach zwei Wochen war wieder Ruhe eingekehrt; die Infektion war durch den Bestand gelaufen. Heute können diese Viren in den großen Beständen zum Teil über das ganze Jahr nachgewiesen werden. Der saisonale Charakter ist verloren gegangen.
Wie können wir gegensteuern?
Für die Zukunft ist es wichtig, mehr über die Influenzaviren im Schwein in verschiedenen Haltungsformen und Bestandsgrößen zu erfahren. Wir könnten dann bessere Impfstoffe entwickeln und die Schweine besser schützen. Es würde weniger Erkrankungen geben und weniger Antibiotika gebraucht werden, um die bakteriellen Begleitinfektionen bei Lungenentzündungen auszubremsen. Das verringert zugleich das Risiko für Menschen, sich Influenzaviren aus der Schweinepopulation einzufangen.
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