Forscher über Migration aus Albanien: „Es ist wie eine Krankheit“
Tausende Albaner*innen migrieren nach Großbritannien. Migrationsforscher Dhimiter Doka kennt die Gründe. Und fragt sich, warum er noch bleibt.
taz: Herr Doka, Albaner*innen machen derzeit ein Drittel derjenigen aus, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien gelangen. Warum riskieren sie diese gefährliche Reise?
Dhimiter Doka: In Albanien herrscht große Hoffnungslosigkeit. Gerade junge, gut ausgebildete Menschen sehen keine Perspektive im Land. In meiner Vorlesung habe ich neulich die Studierenden gefragt, wer von ihnen hier bleiben will. Von sechzig Studierenden haben nur drei die Hand gehoben. In den letzten dreißig Jahren seit dem Ende der kommunistischen Diktatur unter Enver Hoxha haben 1,6 Millionen Menschen das Land verlassen (aktuell hat Albanien 2,8 Millionen Einwohner*innen, Anm. d. Red.). Es ist wie eine Krankheit. Wenn man ständig mitbekommt, wer alles geht, fragt man sich: Warum bleib ich noch hier?
Die britische Regierung gibt an, dass 2020 nur fünfzig Menschen aus Albanien den Ärmelkanal überquert haben, in diesem Jahr waren es 12.000. Woher kommt dieser Anstieg?
2020 und 2021 war die Pandemie noch allgegenwärtig. Nach Frankreich oder Belgien zu gelangen, von wo aus sich die Menschen in Booten oder Lkw nach Großbritannien aufmachen, war schwierig. Aber in dieser Zeit scheinen sich die Schlepperbanden gut organisiert zu haben.
ist Professor für Geografie an der Universität Tirana. Seine Schwerpunkte sind Migration, Bevölkerungsgeografie und Tourismus. Seit 2019 ist er Gastdozent an der Universität St. Gallen.
Warum ist Großbritannien das Hauptziel?
In der ersten Migrationsbewegung während der neunziger Jahre bis Mitte der 2000er migrierten Albaner vor allem in Nachbarländer wie Italien oder Griechenland. Mit der Finanzkrise 2008 wurden andere Länder attraktiver. 2015 gingen circa 80.000 Albaner mehr oder weniger spontan zusammen mit Flüchtlingen aus Syrien nach Deutschland. Es hatte sich herumgesprochen, dass dort Arbeitskräfte benötigt werden. Mit dem Kosovokrieg Ende der neunziger Jahre machten sich viele Menschen aus Nordalbanien auf den Weg nach Großbritannien und gaben sich dort als Kosovaren aus. Es gibt dort also bereits eine große Diaspora. Hinzu kommen Gerüchte: Großbritannien soll seit dem Brexit viele Arbeitskräfte brauchen. Es ist sozusagen das neue Deutschland. Die Leute sagen sich: Ich versuche es einfach, Albanien läuft ja nicht weg.
Dabei ist ihre Chance auf Asyl gering.
Ja, deshalb tauchen viele nach ihrer Ankunft bei Verwandten unter und arbeiten illegal im Land. Sie hoffen, später irgendwie an Papiere zu kommen.
Wie gelangen sie nach Großbritannien?
Meist über bestehende Kontakte vor Ort. Von meinen Studierenden haben fast alle Verbindungen nach Großbritannien, weil dort der Bruder oder Onkel wohnt. Viele Familien verschulden sich, weil die Schleuser 6.000 bis 10.000 Euro verlangen. Es gehen heute also auch Wohlhabende, nicht mehr nur arme Leute, denen es ums Überleben geht, so wie in den Neunzigern. So verliert Albanien auch viel Kapital …
… profitiert aber auch von den Rücküberweisungen aus dem Ausland, oder?
Viel weniger als noch vor ein paar Jahren. In den Neunzigern machten die Zahlungen aus dem Ausland bis zu dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Doch wenn die Eltern nicht mehr leben und die Generationen wechseln, verlieren die Albaner im Ausland diese Verbindung ins Heimatland. Heute machen die Zahlungen noch zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Auch internationale Krisen wie die Finanzkrise, die Pandemie oder die aktuelle Inflation bedeuten, dass weniger Geld zurückfließt.
Hat sich die Stimmung in Albanien seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen im Juli verbessert?
Bis es dazu gekommen ist, hat es schon so lange gedauert, dass die Albaner jetzt keine Geduld mehr haben. Sie wissen, es wird Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis Albanien Teil der EU ist. So lange können sie nicht warten.
Was unternimmt die Regierung von Ministerpräsident Edi Rama gegen den Wegzug?
Sie unternimmt nichts und übernimmt auch keine Verantwortung dafür. Manche munkeln, dass die politische Elite gar kein Interesse an gut ausgebildeten jungen Leuten im Land hat, um für immer an der Macht zu bleiben. Im Fernsehen riet Rama während des letzten Wahlkampfes einem Unternehmer, der keine Arbeitskräfte mehr findet, welche aus Bangladesch zu nehmen. Die seien fleißiger und würden nicht so viel schwätzen wie die Albaner. Das kommt nicht gut an bei den Leuten.
Zumindest hat Rama die britische Regierung scharf kritisiert wegen der Äußerung von Innenministerin Suella Braverman, kriminelle Albaner seien eine „Invasion“.
Natürlich finde ich es nicht richtig, dass sie alle Albaner über einen Kamm schert. Doch Rama hat die Situation genutzt, um sich als Patriot in Szene zu setzen. Er sollte lieber die Situation im eigenen Land verbessern, anstatt einen Streit mit der britischen Regierung anzuzetteln. Das hilft den Menschen hier nicht wirklich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich