Expertin über Zuwanderung ins Königreich: „Großbritannien hat Vorteile“

Die Zuwanderung ist trotz Brexit stark gestiegen. Migrationsexpertin Sumption erklärt, wie sich das auf den Wettbewerb um Fachkräfte auswirkt.

Pflegekräfte demonstrieren in London

Pflegekräfte streiken in London Foto: Henry Nicholls/reuters

taz: Frau Sumption, den britischen Migrationsstatistiken zufolge hat der Brexit die Zuwanderung nach Großbritannien nicht gestoppt, im Gegenteil. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?

Madeleine Sumption: Der Brexit hat die Zuwanderung aus der EU verringert. Aber dies wurde durch verstärkte Zuwanderung aus anderen Ländern mehr als ausgeglichen.

Madeleine Sumption ist Direktorin des Migration Observatory an der Universität Oxford und Mitglied des unabhängigen Migration Advisory Committee, das die britische Regierung in Migrationsfragen berät.

Ist das ein Brexit-Effekt?

Nicht wirklich. Wenn wir das Jahr 2019, das letzte Jahr vor dem Brexit und auch vor der Pandemie, mit 2022 vergleichen, ist der größte Anstieg der in der humanitären Zuwanderung aus der Ukraine und Hongkong. Diese Migrantenkategorien gab es damals noch nicht. Die erleichterte Einreise aus der Ukraine ist natürlich keine Brexit-Folge und die Regelung zur erleichterten Einreise aus Hongkong ist auch nicht Teil der neuen Zuwanderungsregelungen, die an die Stelle der EU-Freizügigkeit getreten sind. Diese regeln die Zuwanderung von Arbeitskräften, und hier kommen vor allem mehr Facharbeiter. Viele sind Arzt- und Pflegepersonal. Sie wären auch unter dem alten System einwanderungsberechtigt gewesen. Ihre Zahlen steigen, weil die Nachfrage im NHS (National Hearth Service, Großbritanniens staatliches Gesundheitssystem) steigt.

Zugleich sollen viele EU-Bürger, die im NHS arbeiteten, das Land verlassen haben …

Ja, aber die Personalkrise des NHS hat damit wenig zu tun. Sie liegt vor allem daran, dass immer mehr Mitarbeiter im Gesundheitsdienst kündigen. Der NHS hat sich immer weitaus stärker auf Nicht-EU-Bürger als auf EU-Bürger verlassen; der Zeitraum von 2012 bis 2015, als viele EU-Bürger zur Arbeit im NHS nach Großbritannien kamen, war eine Anomalie und endete mit dem Brexit-Referendum. Ja, es gibt EU-Bürger, die Großbritannien verlassen, aber viele wären sowieso gegangen, denn nicht jeder Arbeitsmigrant bleibt für immer, und im Gesundheitswesen gibt es auch viele Briten, die nach ein paar Jahren kündigen. Aber all dies ist nicht zu vergleichen mit der Anzahl von Nicht-EU-Bürgern, die mit Arbeitsvisa für Gesundheit und Pflege kommen. Das liegt daran, dass der NHS expandiert, zum einen um die Pandemierückstände aufzuarbeiten und dann auch aus politischen Gründen: Die Konservativen versprachen bei ihrem Wahlsieg 2019 50.000 zusätzliche Vollzeitpflegekräfte und die kann man nicht kurzfristig im eigenen Land rekrutieren, da man dafür ausgebildete Fachkräfte braucht. Für einen schnellen Ausbau des Gesundheitswesens benötigt man Zuwanderung, und darauf hat sich Großbritannien immer verlassen. Der NHS hat einen enormen Verschleiß an Arbeitskräften und es gibt nicht genügend ausgebildete Briten dafür.

Hat der Brexit das erleichtert? Wird es durch den Wegfall der EU-Regeln leichter, weltweit Arbeitskräfte anzuwerben?

Bei Ärzten und Krankenpflegern ist es nicht leichter geworden. Eine spürbare Liberalisierung gibt es in der Altenpflege und der häuslichen Pflege. Anders als zu EU-Zeiten sind diese Sektoren jetzt für die Zuwanderung mit Arbeitsvisa geöffnet, und 10.000 bis 15.000 Zuwanderer kommen jährlich in diesem Bereich ins Land – keine schlagzeilenträchtige Zahl, aber ein Teil des Anstiegs.

Früher gab es in Großbritannien viele Menschen aus Osteuropa in der häuslichen Pflege, auch aus Italien und Spanien. Sind sie in ihre Heimatländer zurückgekehrt?

Es gibt dazu keine genauen Zahlen, aber es gibt anekdotische Angaben darüber, dass häusliche Pflegekräfte aus Ländern wie Ungarn und Rumänien sechs Wochen blieben und dann wieder nach Hause gingen. Das war innerhalb der EU-Freizügigkeit möglich und geht heute nicht mehr, da man für ein Arbeitsvisum bei einer Institution oder einem Unternehmen angestellt werden muss, nicht in einem Privathaushalt. Aber typischerweise werden diese Rollen sowieso mehr von Nicht-EU-Bürgern ausgefüllt. Dass EU-Bürger das eine Zeitlang ohne Formalitäten machen konnten, hat das Grundproblem in der häuslichen Pflege nur übertüncht – die schlechte Bezahlung im Vergleich zu anderen Dienstleistungsbranchen.

Die Migration ins Vereinigte Königreich hat 2022 Rekordwerte erreicht. Laut den kürzlich veröffentlichen neuesten Angaben des Nationalen Statistikamtes ONS verzeichnete das Land in den zwölf Monate bis Juni 2022 eine Nettozuwanderung („Wanderungssaldo“ von Zuwanderung minus Abwanderung) von 459.000 Menschen, fast dreimal mehr als im Vorjahreszeitraum und mehr als in jedem bisherigen Jahr. Während 51.000 mehr EU-Bürger und 45.000 mehr Briten das Land verließen als einwanderten, waren es bei Nicht-EU-Bürgern 509.000 mehr Zuzüge als Wegzüge.

Indien war im Jahr 2021 das wichtigste Herkunftsland von Zuwanderern nach Großbritannien, gezählt nach Geburtsland, gefolgt von Polen, Pakistan, Irland und Deutschland.

Rekordzahlen gibt es auch an illegal Eingereisten, meist auf dem Seeweg aus Frankreich. Die Zahl der von der britischen Küstenwache im Ärmelkanal geborgenen und an Land gebrachten Bootsflüchtlinge erreichte im Jahr 2022 den Rekordwert von 45.728 Menschen. Britische Grenzbeamte haben erstmals im Rahmen eines neuen Abkommens am Montag mit Frankreich an der französischen Ärmelkanal-Küste patrouilliert.

In Deutschland betrug der Wanderungssaldo im ersten Halbjahr 2022 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 1,046 Millionen Menschen, fast ausschließlich auf die Flucht aus der Ukraine zurückzuführen. Im Jahr 2021 lag er bei 329.000.

Der britische Unternehmerverband CBI sagt, wir brauchen mehr Zuwanderung. Premierminister Rishi Sunak und Labour-Chef Keir Starmer plädieren für Einschränkung und bessere Arbeitsbedingungen für einheimische Arbeitskräfte. Wie sehen Sie diese Debatte? Stimmt es denn, dass es einen Arbeitskräftemangel gibt, der durch Zuwanderung ausgeglichen werden muss?

Ich würde der Darstellung, dass Großbritannien mehr Arbeitskräfte braucht und die Politiker sich dem widersetzen, nicht uneingeschränkt folgen. Unter Ökonomen ist strittig, ob Großbritannien mehr schlecht bezahlte Arbeitskräfte braucht. Zuwanderung bringt am meisten, wenn es qualifizierte Arbeitskräfte sind. Mehr ungelernte Arbeitskräfte etwa im Gaststättengewerbe bedeuten, dass das Gaststättengewerbe wächst, aber der Wohlstand von Großbritannien hängt nicht von der Anzahl von Cafés ab. Zu EU-Zeiten war es für Arbeitgeber einfach, Billigarbeitskräfte zu rekrutieren, aber der Volkswirtschaft nützte das wenig. Wenn das wegfällt, werden zwar nicht unbedingt mehr ungelernte Briten angeheuert, sondern die Arbeitsplätze fallen weg und der betroffene Sektor wächst langsamer, aber das hat auch kaum volkswirtschaftliche Auswirkungen.

Kehren wir zu den Facharbeiten zurück. Gibt es da nicht ein Problem des Braindrain, wenn man hochqualifizierte Kräfte aus aller Welt nach Großbritannien holt?

Im Technologiebereich ist es eher von Vorteil, wenn gut ausgebildete Menschen weltweit unterwegs sind. Die Fachkräfte, die jetzt nach Großbritannien kommen, bleiben größtenteils nur wenige Jahre. Es gibt mehr globale Bewegung und das kann den Herkunftsländern nützen. Im Gesundheitsbereich sieht es anders aus, obwohl das nicht immer so klar ist. Manche Länder, wie die Philippinen, haben eine offizielle Politik, Pflegekräfte zu exportieren. Sie sehen das als Exportmarkt. Manche Betroffenen hätten nie eine Pflegeausbildung erhalten, wenn am Ende nicht die Chance auf Auswanderung stünde. Aber es gibt auch Länder, die ihr Gesundheitspersonal gerne halten möchten und es nicht können. Die WHO hat dafür einen Kodex, den auch Großbritannien unterschrieben hat …

Die rote Liste von Ländern, in denen man nicht aktiv Arbeitskräfte anwerben darf?

Ja, genau. Und auf dieser Liste steht Nigeria. Aber Nigeria ist zugleich eines der wichtigsten Herkunftsländer für Zuwanderer im NHS! Das britische NHS darf nicht in Nigeria aktiv Arbeitskräfte anwerben, aber Nigerianer können sich einfach online beim NHS bewerben. Für Nigeria insgesamt ist das schlecht. Aber sollte Großbritannien Menschen diskriminieren, weil sie von sich aus Arbeit suchen?

Aber am Ende fehlt das Personal in den Herkunftsländern, egal auf welchem Weg es nach Großbritannien ausgewandert ist. Hat Großbritannien durch den Brexit nun in diesem Bereich einen Vorteil gegenüber Deutschland? Beide brauchen dringend Arbeitskräfte.

Ich denke, Großbritannien hat Vorteile, aber nicht wegen des Brexits. Es geht darum, dass hier Englisch gesprochen wird und das englische Bildungssystem weltweit begehrt ist, es gibt viele Auslandsstudenten, alte koloniale Verbindungen, Netzwerke von Generationen früherer Migranten. Trotz Brexit behält Großbritannien seinen Ruf als Land mit Willkommenskultur. Es ist aber nicht so, dass Großbritannien jetzt Freiheiten hat, die Deutschland als EU-Mitglied fehlen.

Madeleine Sumption, Migrationsexpertin

Zu EU-Zeiten war es für Arbeitgeber einfach, Billigarbeitskräfte zu rekrutieren, aber der Volkswirtschaft nützte das wenig.

Gibt es vielleicht in EU-Ländern Vorurteile gegen Großbritannien? Lastwagenfahrer beispielsweise sagen mir, für sie sei Großbritannien nicht mehr so attraktiv wie früher.

Sicher ist Großbritannien jetzt weniger attraktiv für EU-Bürger. Manche denken, sie seien nicht mehr willkommen, es gibt auch das politische Umfeld und den Wechselkurs. Und natürlich macht es einen Unterschied, wenn man nicht mehr einfach so einreisen und arbeiten kann, bloß mit dem Reisepass ohne Visum, sondern zur Arbeitsaufnahme einen Antrag stellen muss und an einen Arbeitgeber gebunden ist, es ist alles bürokratisch und teuer. Arbeitsvisa gibt es für Fachkräfte, aber nicht für Ungelernte; Ausnahmen etwa im Bausektor werden kaum genutzt.

Sie sagten, die jüngste Zunahme der Zuwanderung liege vor allem an Hongkong und der Ukraine. Wenn diese Ausnahmesituationen enden, werden dann auch die Zahlen sinken und die politische Debatte sich beruhigen?

Wahrscheinlich schon, aber es wird dauern. Denn es gibt auch viel mehr Auslandsstudenten als früher.

Wieso?

Manches liegt am Ende der Covidpandemie, während der es vor allem Fernstudium gab oder Kurse verschoben wurden; jetzt ist wieder Präsenz angesagt. Und das Studium in Großbritannien scheint einfach attraktiver geworden zu sein. Vielleicht macht es der gesunkene Wechselkurs billiger, vielleicht liegt es an der Möglichkeit, an das Studium ein Arbeitsvisum anzuschließen und noch im Land zu bleiben, um Geld zu verdienen. Das nutzen besonders viele Studierende aus Indien und Nigeria. Das wird sich in zwei oder drei Jahren bemerkbar machen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.