Folgen des Ukrainekriegs in Charkiw: Die zerstörte Stadt
In Charkiw haben fast 150.000 Menschen ihre Wohnung verloren. Der Wiederaufbau geht nur schleppend voran. Deshalb packen die Bewohner selbst mit an.
I ch habe euch doch schon etwas gegeben, das reicht jetzt. Wartet kurz, ich muss noch die Hunde füttern“, sagt Tatjana Sytnikowa. Vor ihr kauern mehrere Katzen auf dem Boden, alle sehen wohl genährt aus. Die 72-Jährige lebt seit den 80er Jahren in Saltiwka, einem Stadtviertel von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs wurde das Viertel von russischen Raketen, Flugzeugen und Artillerie mit am stärksten zerstört. Laut der Stadtverwaltung sind mehr als 8.000 Häuser beschädigt.
Empfohlener externer Inhalt
Gerade ist die Rentnerin Sytnikowa aus Kyjiw zurück gekommen. Und das mit einer Mission: Sie will drei Wohnungen gleichzeitig wieder instand setzen: ihre eigene, die ihrer Tochter und die ihrer Enkelin. Alle drei Familien wohnten vor dem Krieg nicht weit voneinander entfernt. „Ich füttere Hunde und Katzen, viele von ihnen sind einfach zurückgelassen worden“, erzählt die alte Frau, die selber zwei Katzen in Kyjiw hat. Hunde sind noch keine zu sehen. Diese kommen erst gegen zwei Uhr, sie wissen, dass es erst dann Mittagessen gebe, so die 72-Jährige. Sie hat wenig Zeit. Gerade war der Elektriker da und gleich muss sie Chemikalien kaufen gehen, gegen Pilze und Schimmelpilze, die sich in den verlassenen Wohnungen der Verwandten ausgebreitet haben.
Das Viertel von Tatjana Sytnikowa wurde bereits in den ersten Kriegsstunden zu einem echten Schlachtfeld. Mit Tränen in den Augen erinnert sie sich daran, wie sich russische Truppen am 24. Februar bereits gegen 9 Uhr der Ringstraße von Charkiw näherten. Diese ist nur wenige hundert Meter von den ersten Häusern entlang der Natalja-Uschwi-Straße in Saltiwka entfernt. Von dort aus begannen sie, das Gebiet mit Artillerie zu beschießen. Jetzt stehen hier, wohin man auch blickt, nur noch von russischen Granaten verbrannte Hochhäuser.
„Das war ein Außenposten. Zwischen 9 und 10 Uhr kam unser Militär zu uns und hat gesagt: ‚Los, raus hier, geht alle zur U-Bahn‘“, erzählt die Rentnerin. In dem Viertel habe es auch eine renovierte Schule und einen Kindergarten gegeben. Dort versteckten sich von Ende Februar bis Anfang März letzten Jahres Bewohner*innen mit ihren Kindern in einem Luftschutzbunker. Auch dort kam es zu einem russischen Angriff.
Zum Zeitpunkt des Beschusses waren dort 18 Kinder mit ihren Eltern und einige Nachbarn untergebracht, es war ein gezielter Angriff auf die Zivilbevölkerung, so die 72-Jährige. Am 5. März wurde Charkiw Ziel eines der stärksten Luftangriffe. Dabei wurden die meisten Häuser in Saltiwka zerstört. Danach verbrachte Sytnikowa mit ihrer Tochter, ihrer Enkelin und ihrem Ehemann mehrere Tage auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt, in der Gegend von Cholodnaja Gora. Dann ging die Familie zuerst nach Winniza, dann nach Kyjiw.
Doch jetzt ist Tatjana Sytnikowa wieder in ihrer Heimat und gerade auf dem Weg zum Haus ihrer Enkelin. Die Bürgersteige sind gepflastert, sie wurden kurz vor dem Krieg erneuert. An fast jeder Stelle sind Risse zu sehen, überall liegen Gesteinsfragmente herum. Absolut jedes Hochhaus hat einen Volltreffer abbekommen, ist ausgebrannt und teilweise zerstört. Sytnikowa zeigt auf ein neunstöckiges Gebäude, in dem eigentlich ihre Enkelin Asja, eine Stewardess, wohnt. Von hier bis zum Dorf Zirkuny jenseits der Charkiwer Ringstraße, wo die russischen Besatzer vor einigen Monaten ihr Quartier eingerichtet hatten, sind es nur einige Kilometer.
Das Dach des Hauses wurde zerstört, in zwei Aufgängen sind mehrere Wohnungen ausgebrannt. Einige Bewohner versuchen, die Häuser in Eigenregie zu restaurieren. Derzeit lebt niemand mehr in diesem Haus, nur ein paar Vögel sind zu sehen. Einer der Eingänge ist praktisch unversehrt geblieben, aber aufgrund von Schäden am Dach kehrt auch dorthin niemand zurück. Die Behörden berufen sich darauf, dass alle Wohnungen leer stehen. Deshalb werden Kommunikation und Energieversorgung auch nicht wiederhergestellt. Nach Angaben der Rentnerin plant das Bürgermeisteramt seit Langem, 400.000 Hrywnja (umgerechnet etwa 10.200 Euro) bereitzustellen, um das Dach zu reparieren.
Aber fast elf Monate ist hier rein gar nichts passiert. Daher steht jetzt Wasser in den Wohnungen, die Menschen können nicht zurückkehren. Im Gegensatz dazu hat das Nachbargebäude Strom, Wasser und Gas. Dort wurde das Dach nicht durch Granaten beschädigt, also sind die Menschen zurückgekommen und haben selbstständig begonnen, Wohnungen, Eingänge und teilweise die Fassade zu restaurieren. So werden das Bürgermeisteramt und der Staatshaushalt teilweise entlastet.
Tatjana Sytnikowa deutet auf ein weiteres benachbartes Hochhaus mit vier Eingängen. Dort wohnt nur noch eine Frau, ihre Freundin Olga. Sie ist bereits dreimal unter heftigen Beschuss geraten, seither ist sie in einem Schockzustand. In der heißesten Phase des Krieges konnte sie nicht mehr laufen und hat sich eine Lungenentzündung zugezogen. Olgas Sohn ist an der Front. „Aber sie sitzt dort, geht nirgendwo hin und wartet auf ihn“, sagt die 72-Jährige. Die meisten Häuser in der Umgebung sind ohne Heizung, Strom ist Mangelware. Es ist ein Teufelskreis: Die Menschen kehren wegen fehlender Heizung nicht zurück, die Behörden haben es jedoch nicht eilig, die Wärmeversorgung wiederherzustellen, wenn kaum jemand in diesen Häusern lebt.
Sytnikowa, wie viele andere der Anwohner, sieht keine Anzeichen dafür, dass der Bezirk vom Büro des Charkiwer Bürgermeisters die gebührende Aufmerksamkeit erhält. Saltiwka hat am meisten gelitten, also sollte die gesamte Führung hier sein, den Menschen zu helfen und nach Möglichkeiten suchen, etwas zu reparieren, damit die Bewohner*innen hierher zurückkehren. Warum verstehen sie das nicht?“, empört sie sich.
Den Vorwurf, untätig zu bleiben, will der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, nicht auf sich sitzen lassen. 66 mehrgeschossige und bei Angriffen beschädigte Wohnhäuser seien bereits instand gesetzt worden, heißt es auf Anfrage. Dabei ginge es vor allem darum, sogenannte tragende Elemente, wie Wände, Trennwände und Decken, zu erneuern. Für 2023 seien entsprechende Mittel im Budget eingeplant. Doch etwa 500 Wohngebäude in Charkiw würden nicht restauriert, und davon befänden sich 300 in Saltiwka.
Trotzdem sollen in Saltiwka einzelne Häuser restauriert werden, die Stadt sei deshalb mit Baubetrieben im Gespräch. Wie viele, lässt sich noch nicht sagen. Insgesamt haben laut dem Bürgermeister 150.000 Menschen in Charkiw ihre Wohnungen verloren. Die Kriegsschäden, die russische Truppen in verursacht hätten, belaufen sich bisher auf etwa 9 Milliarden Hrywnja (umgerechnet 223 Millionen Euro).
Auch Elena, Bewohnerin eines neunstöckigen Gebäudes in der Natalja-Uschwi-Straße 62, hat kein Zuhause mehr. Die Wohnung der Rentnerin ist ausgebrannt, jetzt lebt sie im Stadtteil Osnovy in der Wohnung ihres Sohnes.
„Wann hier wieder alles instand gesetzt wird, wissen wir nicht. Sie arbeiten dort, wo es weniger Schäden gibt“, sagt Elena. Ihr Haus sei ein Gebäude, das in der Schusslinie stehe. Daher bestehe keine Eile, es vor dem Ende der Kämpfe zu reparieren. Aber immerhin wurden bei Inspektionen Schäden festgestellt. Ob das Haus abgerissen oder wiederaufgebaut wird, wissen die Anwohner selbst nicht. Neulich ist Elena in den Keller eines Hochhauses in ihrer alten Straße hinabgestiegen. Dort lebt ein Hund, der vorher auf einem Parkplatz zu Hause war. „Jetzt gehe ich jeden Tag dorthin, um ihn zu füttern“, sagt sie.
Dann kommt sie ins Grübeln. „Wie kann ich bloß mit unserem Bürgermeister Igor Terechow Kontakt aufnehmen, damit er hilft, unser Haus in der 62 schneller wiederaufzubauen?“, fragt sie sich. Ihr Haus ist ein Genossenschaftshaus, die Wohnungen gehören den Bewohnern. Aber jetzt ist alles verbrannt – Möbel, technische Geräte, Kleidung. Elena weiß nicht, wie sie all ihr Hab und Gut wiederbekommen soll. Sie hat ihr ganzes Leben alles zusammengesammelt, damit sie einen Platz zum Leben hat. „Terechow sollte nicht zu lange überlegen, denn es könnte bald Demonstrationen geben. Die Hälfte der Häuser sind Genossenschaftswohnungen. Das könnte für ihn schwierig werden. In den Chats verlieren die Leute bereits langsam die Nerven“, sagt Elena.
Die Bilder eines eingestürzten Wohnhauses mit 16 Stockwerken in der gleichen Straße gingen um die Welt. Bei einem russischen Luftangriff war am 5. März gegen 15 Uhr eine Bombe auf einen Plattenbau in dem Wohngebiet abgeworfen worden. Heute, fast neun Monate später, besucht Irina, eine 33-jährige Streifenpolizistin aus Charkiw im Mutterschaftsurlaub, zum ersten Mal seit Kriegsbeginn ihr Zuhause. Worte können ihren Zustand kaum wiedergeben. Die Frau weint nicht nur, sie schluchzt. Ihre Tränen fließen nicht, sie kullern aus ihren Augen, fallen einfach zu Boden.
„Ich bin jetzt aus der Westukraine gekommen, um mir das Haus anzusehen. Das sind unsere Wohnungen, die Wohnungen unserer Eltern. Das Haus wurde 1990 gebaut, wir haben hier mit meinen Eltern gelebt, dann bin ich mit meiner eigenen Familie geblieben“, sagt Irina und unterdrückt ihre Tränen. „Das ist unbeschreiblich. Du kannst es nicht in Worte fassen. Wir alle haben unser ganzes Leben hier verbracht, unsere besten Erinnerungen sind hier. Ich kann immer noch nicht glauben, dass dies unser Zuhause ist“, sagt sie.
Irina ist mit zwei ihrer Nachbarn, Dmytro und Maria, hierher gekommen. Die jungen Leute blicken zum Dach hinauf und versuchen zu erraten, wo die Wohnungen gewesen sind. „Ich sehe sogar die Fliesen in der Küche von Allas Tante, die Dima und Vater für sie verlegt haben. Ich kann ein Stück des Korridors sehen, den Eingang zum Zimmer und die Küche. Da, im 15. Stock. Der Nachttisch, siehst du? Das ist meiner“, sagt Irina.
„Nein, nein, nein! Wir und die nächsten zwei oder drei Generationen werden das alles niemals verstehen und verzeihen“, schaltet sich Maria in das Gespräch ein. Sie werden zwar wieder Geld verdienen und einen Platz zum Leben haben. Und sie ist dankbar, dass sie noch immer am Leben sind. Aber dass sie weiterhin hören, wie Raketen fliegen, dass Menschen weiter sterben, das alles kann sie nicht vergeben. „Ich möchte meine Augen schließen, aufwachen und mir vorstellen, dass dies nicht passiert ist, aber es ist passiert. Es ist ganz tief drin, schon im Blut, es gibt keine Möglichkeit, das wieder loszuwerden“, sagt die junge Frau.
Mindestens ein Mann ist in dem Haus von Irina gestorben, er wohnte im 16. Stock und wurde noch nicht gefunden. Die jungen Leute vermuten, dass seine Leiche unter den Trümmern liegt. Aus dem 5. und 7. Stock wurden die Menschen nach der Explosion im März evakuiert und wie durch ein Wunder gerettet.
Robuste Plattenbauten
Trotz allem wollen Irina, Maria und Dmytro weiter in Charkiw leben. Allerdings ist die Frage der Entschädigung noch ungeklärt. Die Behörden drängen darauf, das Ende des Krieges abzuwarten. Derzeit scheint es keinen Plan oder Mechanismus für Erstattungen zu geben.
Auch die Rentnerin Tatjana Sytnikowa möchte bleiben. Sie ist überzeugt, dass alle Häuser in Saltiwka solide gebaut wurden. Deshalb sollten sie wieder instand gesetzt und nicht abgerissen werden. Mithilfe moderner Technologien könnten die sowjetischen Plattenbauten nach der Reparatur noch robuster werden, glaubt sie. Eine totale Umstrukturierung würde sich über viele Jahre hinziehen, aber die Menschen brauchen jetzt Wohnungen. „Wenn sie sie abreißen, wird es lange dauern. Die Reparaturen und alles, was dafür nötig ist. Doch die Häuser sind so gut gebaut, trotz Angriffen und Bombardements stehen sie immer noch“, sagt die 72-Jährige.
Die Rentnerin räumt ein, dass einige Häuser in der Gegend bereits renoviert worden seien, aber nur jene mit wenig Schäden. Ihrer Meinung nach handelt es sich um „kosmetische Reparaturen“, damit Journalist*innen und Ausländer*innen wenigstens etwas vorgeführt werden könne. Sytnikowa will genau wissen, ob es zumindest einen Plan für die Wiederherstellung der Region Saltiwka gibt. Und falls ja, warum wissen die Einheimischen nichts darüber?
An einem der Häuser ist ein Arbeiter zugange. Der Mann erzählt, dass er 400 Hrywnja, etwa 10 Euro, pro Tag für seine Arbeit bekomme. Jetzt werden die Häuser gereinigt, Müll, Schutt und zerbrochene Fenster entfernt. Von großflächigen Instandsetzungen sei ihm nichts bekannt.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
Die taz lernte Juri Larin 2015 bei einem Osteuropa-Workshop der taz Panter Stiftung kennen. Larin lebt in Charkiw und berichtet seit Kriegsbeginn regelmäßig aus der Ukraine. Seit ein paar Monaten ist er Chef eines neuen Charkiwer Medienprojektes, Dumka.media.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid