Flüchtlingspolitik von unten: Ein sicherer Hafen in Göttingen
Eine Göttinger Hausprojekt-Initiative will Geflüchtete aus dem Mittelmeer aufnehmen. Aber die Geflüchteten werden nicht ins Land gelassen.
In Göttingen stimmte die Ratsmehrheit gegen eine entsprechende Initiative von Linken, Grünen und Piraten. „Der Rat der Stadt Göttingen erklärt sich jetzt und in Zukunft bereit, zusätzlich zur regulären Zuweisung der Landesregierung 50 aus dem Mittelmeer gerettete geflüchtete Menschen aufzunehmen“, hatten diese Parteien beantragt. CDU und SPD lehnten das ab. Sie argumentierten unter anderem mit angeblich fehlendem Wohnraum und mit den zusätzlich anfallenden Kosten bei der Versorgung.
Diese Gründe seien doch nur vorgeschoben, sagen nun die Bewohner des Göttinger Hausprojektes „OM10“. Sie boten am gestrigen Mittwoch an, drei aus Seenot gerettete Flüchtlinge in ihren Räumen aufzunehmen und vollständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Die Finanzierung werde über Spenden gewährleistet. „Damit setzt die OM10 ein praktisches Zeichen gegen die von der Stadt Göttingen behauptete Handlungsunfähigkeit bzgl. der Aufnahme von Geflüchteten und die bisherige Weigerung, Göttingen als ‚sicheren Hafen‘ zu erklären“, heißt es in einer Mitteilung.
Im November 2015 hatten ein paar Dutzend junge Leute das zuvor sechs Jahre leer stehende Gewerkschaftshaus in Göttingen besetzt. Nach langen Verhandlungen kaufte die Initiative „Our House OM10“ 2017 das mehrstöckige Gebäude, seither richten die Aktivisten es überwiegend in Eigenarbeit als Wohnraum und Stadtteilzentrum her. Die Buchstaben O und M stehen für den Straßennamen Obere Masch, die 10 für die Hausnummer der Immobilie.
Birgit Sacher, Lampedusa-Bündnis
Ihr Angebot erfolge „aus Verzweiflung über das massenhafte, geduldete und herbeigeführte Sterben an den Grenzen Europas und strategische Fehlplanungen der Stadt Göttingen bei der Wohnraumbeschaffung“, erklärt die „OM10“. Sie verstehe ihre Zusage als humanitären Akt, der allerdings ein falsches politisches Signal aussende: Denn wenn Bewohner und Unterstützer die vollständige ökonomische Versorgung geretteter Menschen übernähmen, entlaste dies gleichzeitig Staat und Politik bei der Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrags. „Ein Dilemma“, wie die Aktiven selbst einräumen.
Um es aufzulösen, verfolgen sie nun eine Art Doppelstrategie. Zum einen appellieren sie an weitere Menschen und Projekte, ebenfalls ernst gemeinte Angebote für die Unterbringung Geretteter zu machen. Dadurch könne praktische Solidarität sichtbar gemacht und wirksam werden. Auf der anderen Seite will die „OM10“ mit ihrer Offerte den politischen Druck auf Politiker und Behörden erhöhen, damit diese die Abschottung und das Massensterben an den Grenzen stoppen.
Gemeinsam mit dem Göttinger „Lampedusa-Bündnis“ und der Initiative „Seebrücke“ soll am heutigen Donnerstag mit einer Kundgebung am Bahnhof eine Kampagne dafür gestartet werden, dass sich die Stadt und der Landkreis Göttingen doch noch zu „sicheren Häfen“ erklären. „Wir laden die Einwohner ein, Stadt und Landkreis Göttingen gemeinsam zu einem sicheren Hafen auszubauen“, sagt Birgit Sacher vom „Lampedusa-Bündnis“. Es gebe in der Region zahlreiche Menschen und Initiativen, die gemeinsam mit professionellen Netzwerken Flüchtlinge unterstützten. „Überlebende brauchen materiell und psychisch einen sicheren Hafen – wo, wenn nicht hier?“
Tödliche Fluchtroute
Die tödlichste Fluchtroute der Welt liegt vor Europas Haustür. Im vergangenen Jahr 2018 starben nach Angaben von Flüchtlingsräten fast 3.000 Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut im Mittelmeer, im Januar 2019 ertranken bereits mindestens 270 Frauen, Männer und Kinder. Gleichzeitig werden zivile Seenotretter bedroht, behindert und juristisch verfolgt. Schiffe, wie nun erneut die „Sea-Watch 3“, dürfen weder anlegen noch auslaufen.
Die wenigen Geretteten kommen oft in überfüllten, menschenunwürdigen Lagern wie auf der griechischen Insel Lesbos unter oder werden in lybische Foltercamps zurückgebracht. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) brüstete sich jüngst damit, gerettete Menschen im Wesentlichen nicht in Deutschland aufgenommen, sondern durch ökonomischen Druck auf andere Länder verteilt zu haben.
Insofern – das wissen die Aktivisten aus der „OM10“– bleibt auch ihr Angebot zur Aufnahme und Versorgung von drei geretteten Flüchtlingen allenfalls symbolisch.
So lange jedenfalls, wie diese Menschen nicht nach Deutschland und nach Göttingen gelassen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen