Flüchtlingslager auf Chios: Zum Warten verdammt
Die Lager auf der griechischen Insel Chios sind völlig überfüllt. Nichts als Mangel und Langeweile. Die Menschen sitzen fest.
Knapp 500 Menschen sind bisher aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht worden. Die letzte „Rückführung“ war am Mittwoch. Mohammad seufzt. Der Krieg hat auch ihn, der in Hama ein Zahnmedizinstudium absolvierte, nach Europa vertrieben. Nun sitzt er hier auf der Insel und wartet. Mohammad lässt seinen Blick in die Ferne schweifen. In leichtem Grau zeichnet sich das türkische Festland ab. Etwa 15 Kilometer ist der Landkreis Izmir, der am nächsten gelegene Zipfel der Türkei, von der griechischen Insel Chios entfernt. Hunderttausende Menschen riskierten im letzten Jahr auf dieser und anderen Strecken von der Türkei nach Europa ihr Leben.
Im März sollte die illegale Einreise dann durch den EU-Türkei-Deal eingedämmt werden: Alle, die nach dem 20. März illegal nach Griechenland gekommen sind, werden in die Türkei zurückgebracht, sollte ihr Asylantrag abgelehnt werden. Zwar kommen, seitdem der Deal in Kraft ist, viel weniger Menschen auf den Inseln an. Doch diejenigen, die bereits da sind, werden nicht mehr nach Athen weitergelassen, sondern müssen – wegen einer potenziellen Abschiebung – bis zum Urteil über ihren Asylantrag ausharren. Mohammad hat in Vial, dem ehemaligen Hotspot, der nach dem EU-Türkei-Deal zum Internierungslager mutierte, Asyl beantragt.
Das Camp wird vom griechischen Militär und der Polizei betrieben. Eigentlich ist vorgesehen, dass Neuankömmlinge bis zu 25 Tage in dem Camp bleiben sollen. In dieser Zeit werden Herkunft und potenzieller Status der Flüchtlinge von den Behörden geprüft. Doch die Camps sind längst überfüllt. Etwa 3.500 Flüchtlinge und Migranten leben momentan auf Chios – die Kapazitäten sind für etwa 1.100 Menschen vorgesehen. Längst wird nicht mehr kontrolliert, wer von den Flüchtlingen das Camp Vial vorzeitig verlässt.
Kaum Obst und Gemüse
Vial ist von hohen Zäunen mit Stacheldraht umringt. „Man hält uns am Leben – mehr nicht“, sagt ein Mann Mitte 40, der an den Zaun gelehnt steht. Er kommt aus Syrien. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Seit fast fünf Monaten lebt er hier. Ja, die Container seien gut ausgestattet, sogar mit Klimaanlage. Doch es gibt keine Informationen, wie lange man noch warten müsse. „Das macht einen fertig“, so der Mann. Die Ärzte der Welt bestätigen, dass das Krankheitsbild Depression in den letzten Monaten stark angestiegen ist. Es habe schon mehrere Selbstmordversuche gegeben. Man arbeite eng mit dem lokalen Krankenhaus zusammen, um den Menschen eine Behandlung zu ermöglichen.
Es gebe kaum Obst und Gemüse, berichtet der Mann weiter. Er mache sich Sorgen um seine Kinder. Manche der Flüchtlinge holten sich aus Verzweiflung Obst und Gemüse von den umliegenden Feldern, teilweise sogar aus fremden Kühlschränken. Im Camp kommt es öfters zu Auseinandersetzungen zwischen den Flüchtlingen. Die Anspannung und Erschöpfung ist groß. „Die unkontrollierbare Stimmung bringt die Bevölkerung immer stärker gegen die Flüchtlinge auf“, sagt Vassilis Pachoundakis.
Er arbeitet im inoffiziellen Camp Di.Pe.The als Freiwilliger der amerikanischen Hilfsorganisation Samaritans Purse. Die ehemaligen Theaterräume im Zentrum von Chios-Stadt wurden den Menschen hier vorerst überlassen, denn die anderen Camps haben kaum mehr Platz. „Ich mache mir große Sorgen, dass die Faschisten hier weiter Aufschwung bekommen“, so der 43-Jährige. Im April wurde er selbst von ihnen angegriffen und zusammengeschlagen, weil er den Flüchtlingen hilft.
Bis vor kurzem hat Pachoundakis, der sich als Anarchist bezeichnet, als freier Helfer gearbeitet. Doch nur noch offiziell registrierte HelferInnen bekommen Informationen und Zutritt in die Camps. Profit wolle er nicht aus seiner Tätigkeit für die NGO ziehen. Von seinen 1.000 Euro Monatsgehalt gibt er rund die Hälfte an die Flüchtlinge im Lager ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts