Flüchtlingsaktivisten über Angriffe: „Es gibt ein Rassismusproblem“
SPD-Poliker Wolfgang Thierse zeigt sich besorgt über Gewalt gegen Asylbewerber. Er warnte vor Wahlkampf auf dem Rücken von Flüchtlingen.
BERLIN taz | Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) warnt vor zunehmender Hetze und Gewalt gegen Asylbewerber. „Ich fürchte, dass wir demnächst Wahlkämpfe auf dem Rücken von Flüchtlingen erleben“, sagte er am Mittwoch auf einem Pressetermin in Berlin. Thierse äußerte sich besorgt über vermehrte Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Politik müsse rechtsextreme Instrumentalisierungen von Bürgerängsten „klar ausgrenzen“.
Zuvor hatte die taz über Zahlen des Bundeskriminalamtes (BKA) berichtet, das im letzten Jahr 58 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte zählte – mehr als eine Verdoppelung zum Vorjahr, als es noch 24 waren. Und es geht weiter: Laut der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS) gab es in diesem Jahr bereits 24 Übergriffe, darunter 12 Brandstiftungen und 7 tätliche Attacken.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder Unterkünfte brennen“, warnte AAS-Geschäftsführer Timo Reinfrank. Er forderte mehr Polizeipräsenz vor Asylheimen und eine klare Willkommenskultur für Flüchtlinge. Auch Günter Burkhardt von Pro Asyl sieht eine „flächendeckende Hetze gegen Asylsuchende“. „Deutschland hat ein Rassismusproblem. Die Entwicklung wird brandgefährlich, wenn sie nicht auf klaren Widerstand stößt.“
Thierse nannte Ängste der Bürger über Asylunterkünfte in ihrer Nachbarschaft nachvollziehbar. „Es ist die Herausforderung der Politik, Wissen über die Fluchtgründe und Solidarität zu vermitteln.“ Thierse appellierte an Kommunalpolitiker, Asylbewerber „als Träger von Grundrechten“ stärker zu verteidigen.
50 Hetzseiten im Internet
Gleichzeitig konstatierten der Sozialdemokrat und die Initiativen auch eine "wachsende Solidaritätsbewegung" mit Flüchtlingen. Daneben aber gibt es laut AAS-Geschäftsführer Reinfrank inzwischen rund 50 Seiten in sozialen Netzwerken, die gegen Asylbewerber hetzen. Die meisten, so Reinfrank, würden von der NPD gesteuert. Auch die Hälfte der 24 Demonstrationen und Kundgebungen, die in diesem Jahr gegen Flüchtlinge gerichtet waren, gingen auf das Konto der rechtsextremen Partei.
Flüchtlingsinitiativen schauen mit Sorge auf den baldigen Kommunal- und Europawahlkampf. Burkhardt forderte ein Ende rechtspopulistischer Parolen auch der etablierten Parteien. Scharf kritisierte er Forderungen der AfD nach Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen. „Die Partei wandert auf einem dünnen Grat zum ganz rechten Rand.“
AAS und Pro Asyl wollen nun bundesweit 100.000 Broschüren verteilen, die Kommunen Argumente für die Aufnahme von Flüchtlingen liefern. Der Bedarf ist da: Parallel zur Pressekonferenz demonstrierte die NPD am anderen Ende der Stadt, in Berlin-Neukölln - gegen die Eröffnung einer neuen Asylunterkunft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken