Flüchtlinge aus der Ostukraine: Wie in einem Gefängniskonvoi

Ein neuer Bericht von Amnesty International bestätigt systematische Zwangsdeportationen in der Ukraine. Diese sind Teil der russischen Kriegsführung.

Ein Mann mit Krücken sitzt auf einem Stuhl auf der Straße, eine Frau mit Gepäck schaut verloren, ein Auto mit Z parkt, Soldaten stehen auf der STraße

Vor dem Filtrationslager: Geflüchtete aus der Ukraine warten in der sogenannten Volksrepublik Donezk Foto: Alexey Kudenko/Sputnik/imago

BERLIN taz | Die Bilder gingen um die Welt: Ausgemergelte Gestalten, darunter auch viele Alte und Kinder, die nach einem wochenlangen Martyrium in Luftschutzbunkern der ukrainischen Hafenstadt Mariupol von russischen Soldaten in Busse verfrachtet und abtransportiert werden. Ein Ziel der Reise: die sogenannte Volksrepublik Donezk (DNR), die prorussische Separatisten und russische Truppen besetzt halten, aber auch nach über acht Monaten Krieg noch nicht vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Dass diese Zwangsdeportationen System haben und Teil der russischen Kriegsführung in der Ukraine sind, geht auch aus dem jüngsten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) „Wie in einem Gefängniskonvoi“ – Russlands rechtswidrige Transfers und Misshandlungen ukrainischer Zi­vi­lis­t*in­nen im Zuge von Filtration“ hervor, der an diesem Donnerstag veröffentlicht wird. Die systematische Art und Weise einiger Deportationen oder erzwungener Transfers ließen den Schluss zu, dass es sich bei den vorliegenden Fällen um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln könne, heißt es in dem ersten Kapitel des Berichts.

Grundlage der Dokumentation sind 88 Interviews vor allem mit Betroffenen beziehungsweise deren Angehörigen. Die meisten wurden zwischen April und August 2022 geführt. Alle Befragten lebten in ukrainisch kontrollierten Gebieten oder im Ausland. Lediglich ein Mann befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in dem von Russland besetzten Teil des Donezker Gebietes.

Ein Filtrationsprozess nach jedem Grenzübertritt

Die Zwangsdeportationen verliefen, laut des AI-Berichtes, immer nach demselben Muster: Die Betroffenen wurden, vielfach gegen ihren Willen und unter massivem Druck, aus den von russischen Truppen besetzten Gebieten zunächst in die DNR und von dort aus größtenteils in die Russische Föderation verbracht. Die, die sich um eine Evakuierung in Regionen unter der Kontrolle Kyjiws bemühten, wurden aktiv daran gehindert.

So zitiert der Bericht eine 33-jährige Frau namens Milena, die mit ihrem Mann und zwei Kindern vor den Bombenangriffen Schutz in einer Fabrik gesucht hatte. Nach der Einnahme Mariupols durch die Russen hatte die Familie versucht, in von der Ukraine kon­trolliertes Gebiet zu fliehen – vergeblich. „Wir fragten nach Möglichkeiten der Evakuierung und wohin wir gehen könnten. Ein russischer Soldat sagte: „Wenn ihr nicht in die DNR oder die Russische Föderation geht, werdet ihr für immer hier bleiben.“

Bei jedem Grenzübertritt (in die DNR, die Russische Föderation oder in ein Drittland wie Estland) wurden die Betroffenen einem sogenannten Filtrationsprozess unterzogen. Die sogenannten Filtrationslager erinnern an düsterste Zeiten von Russlands Kriegen gegen die Nordkaukasusrepublik Tschetschenien (1994–1996 und 1999–2009). Tausende wurden dort festgehalten, gefoltert, getötet oder blieben spurlos verschwunden.

Diese Vorgehensweise, zu der lange Verhöre, die Abnahme von Fingerabdrücken, Leibesvisitationen sowie willkürliche Haft gehören, wiederholt sich auch jetzt wieder. Das zeigt das Beispiel des 28-jährigen „Maksym“, eines ehemaligen ukrainischen Polizisten. In einem Polizeirevier wurden ihm nach wiederholten Misshandlungen schließlich ein Sack über den Kopf gezogen und die Luftzufuhr abgeschnitten. „Lasst uns ihn auf ein Feld bringen und dann töten“, lautete ein Kommentar.

Zwangsdeportationen und vulnerable Gruppen

Besonderes Augenmerk legt der AI-Bericht auf vulnerable Gruppen. Sie sind ihren Peinigern gänzlich schutzlos ausgeliefert. Als Beispiel wird die Einrichtung Nr. 2 in Mariupol für Alte und Menschen mit Beeinträchtigen genannt. Die 92 Be­woh­ner*in­nen waren zunächst in ein Jugendlager im Dorf Jurivka gebracht worden, von wo aus sie in die von der Ukraine kontrollierte Stadt Saporischschja hätten evakuiert werden sollen. Nach Einzug der Pässe führte der Weg per Bus jedoch geradewegs nach Donezk.

Auch vor Zwangsdeportationen Minderjähriger, die von ihren Eltern getrennt wurden, machten die russischen Truppen nicht halt – wie im Fall eines Elfjährigen, der während des „Filtrationsprozesses“ von seiner Mutter getrennt und in das Donezker Gebiet gebracht wurde – ein eklatanter Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht, wie es im AI-Bericht heißt.

Dass vor allem Kinder auch künftig Opfer schwerer Verbrechen werden, steht leider zu befürchten. Am 22. Oktober 2022 verkündete Russland die illegale Annexion der DNR, der LNR sowie von Teilen der Gebiete Saporischschja und Cherzon. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Praxis nicht auch dort fortgesetzt wird. Entsprechende gesetzliche Grundlagen, um Waisen zu adoptieren, hat Russland bereits geschaffen.

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