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Flüchtende auf dem MittelmeerBrutalität, wo einst Scham war

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Sieben Jahre nach dem Tod von Alan Kurdi ist Europa von einer humanen Flüchtlingspolitik entfernter denn je. Auch die Ampel ist eine Enttäuschung.

Migranten geben Signale an die Rettungskräfte einer NGO mit ihren Mobiltelefonen im Mittelmeer Foto: Juan Medina/reuters

A ls am Freitag vor genau sieben Jahren der zweijährige Alan Kurdi an der türkischen Küste angeschwemmt wurde, war das erschütternde Foto der Leiche allgegenwärtig. Das in diesem Bild verdichtete Leid der Flüchtenden war damals etwas, das in Europa Scham und Entsetzen auslöste. Ebendiese Scham ist seither verloren gegangen. Die Brutalität, mit der sich Europa gegen Flüchtende abschottet, wird heute nicht mehr versteckt. Die Verantwortlichen stehen zu ihr – völlig ungeniert.

Diesen August starb in Griechenland ein anderes Kind auf der Flucht. Es hieß Maria, ein fünfjähriges Mädchen aus Syrien, das mit seiner Familie nach Griechenland zu gelangen versuchte wie einst Alan Kurdi. Doch heute ist Griechenland offen dazu übergegangen, Schutzsuchende mit Gewalt am Grenzübertritt zu hindern – tausendfach.

Marias Familie saß wochenlang auf einer Insel im Grenzfluss Evros fest; griechische Sicherheitskräfte versperrten den Weg. Medien berichteten, nichts geschah. Die Familie trank Wasser aus dem schlammigen Fluss, das Kind starb. Der Spiegel-Journalist Giorgos Christides, der den Fall von Maria und ihrer Familie mit recherchierte, wurde in diesen Tagen von der griechischen Regierung öffentlich und persönlich angegriffen, wie man es sonst aus autokratischen Staaten kennt.

Der Blick nach Malta, nach Libyen, nach Italien, nach Algerien, nach Ceuta und Melilla, an den Ärmelkanal, an die Grenzen von Polen und Belarus, von Kroatien und Serbien zeigt ein ähnliches Bild: eine mörderische Entrechtung Hilfloser, wofür sich heute niemand mehr ernsthaft schämt, wofür keine politischen Konsequenzen mehr zu befürchten sind.

Sinkende Boote im Wochentakt

Im Wochentakt sinken Flüchtlingsboote im Mittelmeer, immer noch, immer wieder, obwohl ihre Rettung ein Leichtes wäre. Welche Rolle Deutschland, lange Treiber der Abschottung, in dieser Lage spielen will, ist offen. Die Ampel hat die Dinge im Koalitionsvertrag klar benannt, sich verpflichtet, die Entrechtung zu stoppen – und dafür konkrete Vorhaben genannt: staatliche Hilfe für die Seenotrettung, Entlastung für die EU-Außengrenzenstaaten durch einen freiwilligen, aber wirksamen Umverteilungsmechanismus für Ankommende.

Während in den vergangenen Monaten anderes, Unabweisbares auf die Agenda drängte, ist die Bilanz der Ampel bisher äußerst dürr. Eine Politik, die Flüchtlingsrechten wieder Geltung verschafft, ist nicht in Sicht. Jene, die in der Flüchtlingsabwehr keine zivilisatorischen Hemmungen mehr kennen, ermutigt das weiter. Und wenn in Italien bald die Postfaschisten die Regierung anführen, wird die Lage noch schwieriger.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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15 Kommentare

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  • Vielen Dank für Ihren wichtigen Artikel! Mögen auch andere Medien sich ihrer Verantwortung bewusst werden und nicht einfach wegsehen.

    • @Noch nie in meinem ganzen Leben:

      Was stellen Sie sich vor?



      Das "andere Medien" plötzlich über faire Weltwirtschaftsordnung, 530 Jahre Eroberung und europäische Ausgründungen in den Amerikas und darüber schreiben, das beim G20 mit Glück ein einziger Regierungschef eines Landes vom afrikanischen Kontinent geladen ist?



      Das europäische Pflicht seit mindestens 30 Jahren gewesen wäre, mit der russischen Bevölkerung eine europäisch-russische Friedensordnung zu schaffen? Das es ukrainische Nationalisten einen feuchten Kericht interessiert, was ihre völkische Nationwerdung für den Rest der Welt bedeutet?

      Ich sehe da schwarz. Überall "liberale Moderne". Wenns hoch kommt. Und hin und wieder Gottesdienst für die Armen der Welt. Das ist alles.

  • Es ist sehr gut, wenn Menschen hier diese Dramen nicht aus dem Blick verlieren und darauf hinweisen.

    Will man es aber nicht bei reinen Gesten belassen, geht es einem nicht nur über die Empörung und das eigene Menschlichkeitsbild oder um den Kampf gegen Rechts bei uns, sondern um eine grundlegendere Verbesserung, wäre mehr Offenheit gut. Aus meiner Sicht gehört dazu, dass es nicht nur keine einfachen Lösungen gibt, noch nicht mal komplizierte, und auch, dass viele im Kleinen menschliche Maßnahmen im Großen nichts verbessern, manches sogar verschlimmern.

    Es nützt wenig auf Einzelschicksale hinzuweisen, wo in jedem (wirklich jedem) Fall, so leicht eine Abhilfe zu schaffen wäre - das Verbessert nichts an der Gesamtsituation für Abermillionen Menschen. Die scheint mir einiges komplexer, als dass nur Fehler bei den reichen Ländern lägen, sie die also auch mit gutem Willen beheben könnten.

    • @Markus Michaelis:

      Sorry - aber den...Gedanken...kenne ich nun seit ich denke ich denke selbst. Das sind nun roundabout 50 Jahre. Die vorher schon dachten und erlebten, sagten mir vor 50 Jahren, dass solche Sätze auch schon fallen, seit sie denken können.

      Also mal nicht drüber nachdenken, weshalb die Hungeleiderinnenländer selbst schuld sind. Das wissen die Klügsten vor Ort geboren, auch schon seit mehr als 100 Jahren.

      Sondern darüber, wem Sie hier nicht an den Karren fahren, der von der Struktur, der Agenda und der Praxis lebt, dass er den Klügsten in den Hungerleiderländern ja gar nicht zuhört. Gelinde gesagt.

      Ich komm noch aus der Zeit, da mordete das nordatlantische Chicago-Boys Bündnis schlicht jene weg, die vor Ort andere Ökonomie, Demokratie wollten.

      Vielleicht machen sich die heute bis 40-Jährigen endlich mal klar: Nachdem der Hitlerfaschismus richtig konkret das Personal weggemordet hatte, war schlicht nicht mehr soviel politisch-gesellschaftliches Personal da. Damit wir heute in allem weiter sein könnten. Ist halt ganz materiell. Überlebt hatten ja die, die entweder selber mordeten, es nicht sehen wollten, oder trotz Mord halt kollateral relativierten. Des Grossen Ganzen wegen.

      Nun übertragen Sie dies einmal auf das 20.Jahrhundert der Entkolonialisierung und Entkolonialisierungsversuche. Da könnte dann ein Begriff, eine Analyse und eine Haltung entstehen. So ist das nämlich mit der Ökonomie und mit der Politik und so. Wer seine Geschichte nicht kennt, kann heute nichts verstehen und für die Zukunft nichts entwerfen.

      Schauen Sie doch mal, mit wem der nordatlantische Chicago Boys Bund die letzen Jahrzehnte vor Ort verbündet war. Das ist auch interessant, um nun zu verstehen, was...sagen wir mal...problematisch ist, ist man so eng mit autoritären Nationalisten wie nun mit dem was ukrainische Nationalisten Ukraine nennen.

      Lumumba ist tot. Thomas Sankara ermordet. Mit wem ist Shell in Nigeria befreundet?

      • @Thomas Tirt:

        Ich glaube nicht, dass der Rest der Menschheit so abgehängt ist, dass man nur auf Hitler, die Chicago-Boys und Shell schauen muss, um die Welt zu verstehen. Das glaube ich nicht.

  • Die große Mehrheit der Länder (und Bürger) Europas ist für diese Abschottungspolitik. Und ich erwarte, dass sich dieser Trend noch verstärkt in den kommenden Jahren.

    Eine Willkommenskultur wird es in Europa nicht mehr geben.

    • @gyakusou:

      Genau so ist es, leider!



      Und bei weiter zunehmenden Verteilungskämpfen in unseren Ländern fallen die Flüchtlinge als Erste runter, werden von der Mehrheit der Bevölkerung als "Asylbetrüger" herabgewürdigt.

  • Nein ich gewöhne mich nicht daran!

  • Der schlimmste Feind der Humanität ist die (schleichende) Gewöhnung an unheilvolle Zustände, denn sie ermöglicht es den Tätern erst, ihr Tun fortzusetzen … die Ertrinkenden im Mittelmeer sind die schwärende Wunde eines sich als freiheitlich und demokratisch verstehenden Europas.



    Es geht dabei nicht um (Kriegs)Verbrechen in der Ukraine oder im fernen Xinjiang. Es betrifft und unmittelbar und durch Zustimmung oder Schweigen zu dieser unmenschlichen EU-Politik machen wir uns mitschuldig.

  • So bitter das ist, man gewöhnt sich an alles.

    Käme da einer mit einer Zeitmaschine, sei es nur aus dem Jahr 2000 an, er wäre wohl fassungslos angesichts der Kaltschnäuzigkeit und Gleichgültigkeit dem Leid der Flüchtenden gegenüber.

    • @Jim Hawkins:

      Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen waren 1992. Also so verwundert dürfte der Besucher aus dem Jahr 2000 über die Klatschnäuzigkeit der westlichen Gesellschaft gegenüber Füchtenden nicht sein!

      • @Hannah Remark:

        Na, ich weiß nicht. Ich hätte mir das nicht träumen lassen, dass es normal wird, tausende von Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, in libyschen Folterlagern oder im Niemandsland verrotten zu lassen.

        Rostock war natürlich eine Zäsur. Der Schock bei den meisten war auch ziemlich groß.

        Dennoch sind die Dimensionen andere. Es gibt ja auch für jede Grausamkeit eine Statistik:

        de.statista.com/st...enen-fluechtlinge/

        25.000 Tote seit 2014. Und das ist nur eine Schätzung.

        • @Jim Hawkins:

          Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen und es Hilfsorganisationen besonders schwer bis unmöglich zu machen Menschenleben zu retten ist leider im Endeffekt nur die zynische logische Konsequenz aus Rostock-Lichtenhagen. Die Berichterstattung zu Rostock-Lichtenhagen und Bestürzung zeigt doch nur wie scheinheilig diese Geselllschaft ist, insbesondere wenn es ums Geld bzw. dessen Umverteilung geht.

    • @Jim Hawkins:

      Ja man muss ja irgendwann Gleichgültig werden und es ist auch nur folgerichtig.

      Ist man selbst die liberale moderne Weltpolitik und Weltökonomie die das alles produziert.

      Nun sind wir ja mit Nationalisten verbündet, die Nationalisten mit Nationalismus bekämpfen. Ist doch alles gut, kohärent und liberale Moderne.

  • Das agieren der Nationalstaaten der EU ist beschämend. Werte müssen endlich wieder eine Rolle spielen. Wie empathielos mus man sein, um zum Beispiel Pushbacks zuzulassen.

    "Zur Erinnerung: Es war eine Reaktion auf den Holocaust, dass das Recht, Asyl zu beantragen, im internationalen, regionalen und nationalen Recht verankert wurde."

    www.juedische-allg...n-juedische-werte/