Flüchtende an der Grenze zu Libyen: Tunesien deportiert Migranten
1.200 Menschen harren in einer militärischen Sperrzone aus. Tunesiens Präsident Saied weist Kritik zurück. Hilfsorganisationen sind alarmiert.
Seit letztem Mittwoch werden die Migranten in Bussen an die libysche sowie an die algerische Grenze gefahren. Nach Angaben des aus Sfax stammenden Parlamentsabgeordneten Moez Barkallah schicken die Behörden täglich mehrere Gruppen in das Niemandsland an der libyschen Grenze beim Grenzübergang Ras Jadir.
Viele der nach Sfax gekommenen Menschen waren zuvor aus Libyen geflohen oder von Schleppern aus Algerien in den tunesischen Grenzort Kasserine gebracht worden. Mit dem Transport der Migranten imitiert Tunesien nun die von den EU-Innenministern aktuell angestrebte europäische Asylpolitik: Zukünftig soll es demnach möglich sein, abgelehnte Asylbewerber aus einem EU-Mitgliedsstaat in das Land zu schicken, aus dem sie eingereist waren, auch wenn sie nicht von dort stammen.
Das Vorgehen Tunesiens, die Menschen in der Wüste auszusetzen, hat offenbar schon zum Tod mehrerer Menschen geführt. Migranten in Tunesien stehen mit der täglich größer werdenden Gruppe an der Grenze zu Libyen in Kontakt. Sie berichteten von mindestens acht Todesfällen aufgrund von Dehydrierung und Schwäche. Einem Reporter von Al Jazeera gelang es, in das Sperrgebiet zu gelangen und mit den Gestrandeten zu sprechen. Bis auf die libyschen Grenzbeamten hätte ihnen niemand Wasser oder Lebensmittel gebracht, berichtet der Reporter Malik Traina.
Temperaturen über 40 Grad
Die Gruppe harrt am Strand aus und wird von tunesischen und libyschen Beamten an der Weiterreise in die libysche Hauptstadt Tripolis oder der Rückkehr nach Sfax gehindert. Libysche Grenzbeamte berichteten der taz von heftigem Streit mit den tunesischen Kollegen. Man beherberge mehrere Hunderttausend Migranten und sei bisher nie auf die Idee gekommen, diese ohne Vorankündigung nach Tunesien zu schicken.
Der Reporter Traina und Migranten, die mit der Gruppe in Kontakt stehen, appellieren an Hilfsorganisationen, der Gruppe so schnell wie möglich Hilfe zukommen zu lassen. Derzeit herrschen in dem Gebiet Temperaturen von über 40 Grad Celsius. Human Rights Watch forderte Tunesien auf, „dringend humanitären Zugang“ zu den Betroffenen zu ermöglichen, die „wenig Nahrung und keine medizinische Hilfe“ hätten.
Tunesiens Präsident Kais Saied wies Kritik am Samstagabend zurück. „Diese Migranten werden menschlich behandelt, ausgehend von unseren Werten und Charakterzügen“, sagte Saied. Dieses Verhalten stünde im Gegensatz „zu dem, was koloniale Kreise und ihre Agenten verbreiten“. Mit Blick auf die Migranten sagte er: „Tunesien ist keine möblierte Wohnung zum Verkauf oder zur Miete.“
Bislang völlig unklar ist, warum die tunesischen Behörden die Menschen ohne Absprache mit Hilfsorganisationen deportieren. In Sfax trauen sich nach dem Abflauen der jüngsten Welle der Gewalt gegen Migranten einige nun wieder auf die Straße. Am Freitag forderten mehrere Hundert Menschen mit selbst gemalten Plakaten, ein Ende der Übergriffe und in ihre Heimat ausgeflogen zu werden.
Hassan Gierdo aus Guinea zeigt auf eine offene Wunde an seinem Unterschenkel. „Jemand hat mit einem Knüppel auf mich eingeschlagen, als ich bereits zusammen mit einem Dutzend anderer zusammengetriebener Menschen auf dem Boden lag. Ich habe kein Geld für einen Arzt und öffentliche Krankenhäuser behandeln uns nicht“, sagt der 24-Jährige. „Man will es uns unmöglich machen, in Tunesien zu bleiben, auch wenn das unser Leben in Gefahr bringt“, glaubt Gierdo.
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