Flucht nach Großbritannien: Die Türsteher vom Ärmelkanal
Zu Tausenden kommen Flüchtlinge in kleinen Booten aus Frankreich nach Großbritannien. An Englands Südküste machen jetzt rechte Aktivisten mobil.
V on der Klippe über Dover, die einen weiten Blick über den Ärmelkanal bietet, ist kurz vor 5 Uhr morgens nur tiefes Schwarz zu erkennen. Am Horizont jenseits der Hafenbeleuchtung lässt kein einziges Licht auch nur ein Schiff erahnen.
Rechtzeitig zur Morgendämmerung haben sich zwei dickbäuchige Männer hinter den Schutzzaun auf dem Felsen mit direkter Sicht auf das Hafenbecken postiert. Der eine trägt eine grüne Armeetarnhose und ein T-Shirt, der andere einen Trainingsanzug. Mit Fernrohren und Teleskopkameras halten sie nach Bewegung auf dem Wasser Ausschau, geleitet von Apps auf den Smartphones, die alle Schiffsbewegungen im Ärmelkanal anzeigen.
Die beiden Mittfünfziger sind ehemalige Hafenarbeiter aus Dover. „Was wir hier machen, ist Zeitvertreib“, beschreibt es der Dicke im Trainingsanzug. Nach dem Tod seiner Mutter haben ihm sein Arzt geraten, mehr an die frische Luft zu gehen, um wieder auf andere Gedanken zu kommen, erzählt er und blickt auf den Sonnenaufgang über dem Meer.
Hoch über der Stadt hat er tatsächlich eine neue Obsession entdeckt. „Ich verstehe ja, wenn Leute aus Syrien kommen, aber Kuweit und Iran? Da ist doch gar kein Krieg“, weiß er. „Wieso müssen die zu uns kommen, wenn sie durch Länder wie Frankreich reisen?“ Bevor er weiter loslegen kann, lenkt sein Kumpel das Gespräch auf das Hupen frustrierter Lkw-Fahrer – auf der großen Zufahrtsstraße nach Dover herrscht gerade Dauerstau wegen eines Unfalls.
Wegen des Staus hat auch die Morgenschicht der Grenzschutzmarine ihren Kleinbus weit entfernt geparkt, die Beamten legen den Rest des Weges zu Fuß zurück, wie man von oben sehen kann. „Wie werden die bei dem Stau später einen Bus durchbringen, um die Leute abzuholen, die sie finden?“, fragt sich einer der Beobachter. Derweil verlässt das erste Fischerboot das Hafenbecken. Eher eine Seltenheit in Dover, verraten die beiden.
Die drei kleineren Einsatzboote der „Border Force“ liegen noch auf Anker. Doch laut App tuckert ein größeres Grenzschutzschiff weiter östlich. Und gegen 7.30 Uhr ortet einer der beiden Männer auf seinem Smartphone auch ein Suchflugzeug, das 50 Kilometer östlich bei Dungeness an der Südostspitze von Kent rund fünf Kilometer vor der Küste entfernt Runden dreht. „Sie haben Leute gefunden“, jauchzt er.
Es dauert tatsächlich nicht lange, bis eines der grauen Border-Force-Boote aus dem Hafen fährt und Kurs nach Osten nimmt. „Die gehen jetzt auf die Suche“, sind sich die beiden Männer sicher.
Über 6.500 Bootsflüchtlinge seit Januar
Über 6.500 Flüchtlinge haben seit Januar die Fahrt über den Ärmelkanal aus Frankreich nach Großbritannien geschafft. Die meisten stammen nach offiziellen Angaben aus Ländern wie Jemen, Iran, Eritrea, Tschad, Afghanistan, Sudan und Äthiopien. In Frankreich finden sie keine Hilfe, in Großbritannien haben sie Familie oder Bekannte oder hoffen, sich dort besser durchschlagen zu können. Der Ärmelkanal ist der bevorzugte Ausweg aus den Dschungelcamps von Calais geworden. Gangs verdienen an organisierten Schlauchbootüberfahrten. Es ist lebensgefährlich, aber für die Menschen alternativlos.
Die beiden alten Engländer mit ihren Teleskopen auf dem Felsen von Dover haben eine andere Perspektive. Sie stehen vor einem militärischen Spähposten aus dem 19. Jahrhundert, der zuletzt im Zweiten Weltkrieg benutzt wurde, als es darum ging, England vor der Nazi-Invasion zu schützen, die täglich aus Frankreich erwartet wurde. Und so fühlen sie sich auch heute wieder.
Bestärkt wird ihr Gefühl von den Livestreams verschiedener solcher Wächter, die an der Küste von Kent Wache schieben und jeden Tag ihre neuesten Aufnahmen von ankommenden Flüchtlingen ins Internet stellen. Sie zählen die Namen auf: „‚Active Patriot‘, ‚Little Veteran‘, ‚Tyrant Finder UK‘.“ Dann sagt einer der beiden plötzlich: „Deswegen kennen wir Sie auch schon. Sie sind der deutsche Journalist! Wir sahen Sie gestern im blauen Jackett, als Active Patriot von der Aufnahmestation da unten streamte.“
Vor den Augen der antimigrantischen Aktivisten
Gestern – das war, als am Nachmittag eine ganze Familie in den Hafen von Dover gebracht wurde, während der taz-Reporter sich gerade dort aufhielt. Hinten im Boot der Border Force saß ein kleines Mädchen mit schwarzen schulterlangen Haaren und erschöpftem Blick. Neben ihr saßen ein älterer Junge, zwei kleinere Kinder sowie vermutlich die Mutter und der Vater im braunen Jackett, den Arm schützend um die kleine Tochter gelegt. Insgesamt waren es mindestens ein Dutzend Menschen.
Ein Grenzschützer, wegen Covid-19 gekleidet in einen weißen Seuchenschutzanzug, wies mit hochgekrempelten Ärmeln den Weg aufs Land: über zwei angedockte größere Boote und einen Landesteg. Weiter ging es zur mobilen Aufnahmestation: ein paar Container und Zelte auf einem Lkw-Parkplatz. Ein weißer Bus stand neben einem Krankenwagen, für alle Fälle.
Die Aktivistengruppe, von der man also am nächsten Morgen erfährt, dass es sich um „Active Patriot“ handelte, saß bis dahin noch auf den Gartenstühlen der benachbarten Trucker-Kneipe. Sie trugen kurze Sommerhosen, T-Shirts, auch ein Hund an einer Leine war dabei.
Ein schlanker junger Mann trug als Mund-Nasen-Schutz die rot-weiße englische Fahne, er hatte ein Gestell mit zwei Smartphones in seiner rechten Hand und lief aufgeregt um das Aufnahmezentrum herum. Ein anderer junger Mann bestieg sogar einen Gitterzaun und filmte den Innenbereich. Das Sicherheitspersonal reagierte nicht.
„Border Force“ greift auf, Nigel Farage filmt
Zurück auf dem Felsen über Dover am nächsten Morgen. Inzwischen ist es 10.30 Uhr. Die beiden Alten auf der Klippe holen ihre Teleskopkamera aus dem Rucksack. Ihr „Einsatz“ hat sich gelohnt: Das kleine Boot der Border Force fährt gerade wieder in den Hafen ein, im Schlepptau ein kleines weißes Schlauchboot. An Bord: eine Gruppe von Menschen, eingehüllt in rote Decken. Viele scheinen Kinder zu sein.
Auch das kleine Fischerboot, das am frühen Morgen als erstes auf See gefahren war, ist auf dem Rückweg. Auf dem Frontdeck filmen ein paar Leute das Boot der Border Force.
Es ist nicht weit den Felsen hinunter bis zum Hafen. Ein paar Spaziergänger*innen stehen herum und beobachten die Ankunft der Flüchtlinge. „Ich habe großes Mitgefühl für diese Menschen“, sagt eine ältere Frau. John Hayne, 79, stimmt ihr zu: „Wir müssen den Kindern helfen“, insistiert er mehrmals. Neben der Aufnahmestation haben sich derweil wieder die antimigrantischen Aktivist*innen gesammelt und streamen live, bis zum Abend haben ihr Video 13.000 Menschen gesehen.
Im Cafégarten des Strandhotel „Best Western“ mit Blick über die Bucht von Dover sitzt Indre Lechtimiakyte. Die Litauerin verließ vor vier Jahren ihre Heimat, um sich in England mit der Hilfsorganisation Samphire für Flüchtlinge einzusetzen. Sie beschreibt, wie die Asylsuchenden mit Hoffnung ankommen und im Alptraum landen, so wie überall in Europa.
„Manche sitzen wegen bürokratischen Schwierigkeiten jahrelang im Limbo. Wenn Menschen durchs Netz fallen, sind auf die Hilfe von Organisationen wie wir angewiesen“, erzählt sie. Lechtimiakyte versteht nicht, wieso Asylsuchende kein Arbeitsrecht haben und stattdessen der Staat Geld dafür ausgibt, Menschen in unmenschlichen Verhältnissen zu halten.
Plötzlich gibt es einen kleinen Tumult im hinteren Gartenteil. Ein Mann mit Baseballmütze sagt freundlich lächelnd „Good Bye!“, steigt über die kniehohe Mauer auf die Straße und verschwindet in einem bereitstehenden Landrover.
Es ist Nigel Farage, Großbritanniens bekanntester Rechtspopulist. Seit Monaten ist der Führer der Brexit Party an der Küste von Kent unterwegs, um die Bootsanlandungen zu dokumentieren und Alarm zu schlagen, dass niemand etwas dagegen unternehme. Wie sich herausstellt, war Farage just auf jenem kleinen Fischerboot, das am frühen Morgen den Hafen verlassen hatte und fast zeitgleich mit dem der Border Force wieder zurückkam.
Auf Twitter zeigt der Ex-Europaabgeordnete später die Leute, die an diesem Morgen geborgen wurden. Er hat sie noch auf hoher See angetroffen. Während sie Wasser aus ihrem lecken Schlauchboot schöpfen, lästert Nigel Farage vor der Kamera über die Franzosen, die diese Fahrt nicht verhinderten, die sogar den Menschen Rettungswesten ausgehändigt hätten. Hinter ihm winkt derweil ein Junge vom Schlauchboot ahnungslos und freundlich in seine Kamera.
Das Resultat solcher Filmchen liegt auf der Hand. Flüchtlingshelferin Lechtimiakyte erzählt von Hassmails, Drohanrufen und Angriffen auf Twitter. Anfang September kam es in Dover zu einer größeren Demonstration Rechtsextremer. Vor einigen Wochen gingen Mitglieder der rechtsextremen Gruppe „Britain First“ sogar durch Dovers Hotels und klopften an Zimmertüren, um Flüchtlinge aufzuspüren.
Behörden in Kent sind überlastet
Probleme bringen die Flüchtlinge tatsächlich, aber das liegt nicht an ihnen. In Großbritannien ist für unbegleitete Minderjährige die jeweilige Kreisbehörde zuständig – in diesem Fall also die Grafschaft Kent. Für Massenankünfte aus dem Ausland hat sie nicht die Kapazitäten. Ein vor vier Jahren geschaffenes nationales Transfersystem sollte eigentlich die Verantwortung für diese Kinder auf das ganze Land verteilen, doch das scheint nicht mehr zu funktionieren.
Im August befanden sich 600 Flüchtlingskinder in der Obhut Kents, 369 mehr, als sie verpflichtet sind aufzunehmen. Jetzt sollen sie angeblich in ein ehemaliges Armeelager. Aber Bridget Chapman vom „Kent Refugee Action Network“ fragt sich, wer denn jetzt mit diesen Kindern arbeitet. „Angeblich will das Innenministerium es tun, aber mit welchen Arbeitskräften, weiß der Kuckuck, denn sie haben nicht die notwendigen Expert*innen.“
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