Flucht im Zweiten Weltkrieg: Die Grenze und der Tod
Am 8. Mai jährt sich das Ende des 2. Weltkrieges zum 77. Mal. Erinnern ist Gedenken – die taz hat die tragische Flucht eines Ehepaares rekonstruiert.
D ie Nacht bleibt trocken, das Thermometer bewegt sich um den Gefrierpunkt. Drei Tage nach Vollmond ist die Dunkelheit am Weihnachtsabend 1942 nicht ganz so undurchdringlich, als das Ehepaar Grüneberg den Personenzug an dem kleinen Bahnhof Grenzacher Horn an der deutsch-schweizerischen Grenze verlässt. Auf den Fahrkarten, die Alex und Friederike, genannt Frieda, gelöst haben, steht ein anderes Reiseziel als dieser Provinzbahnhof, denn das hätte sie verdächtig gemacht.
Empfohlener externer Inhalt
In der Schweiz meldet die Neue Zürcher Zeitung für die Weihnachtstage Pulverschnee und laufende Lifte in Graubünden. Die Schweiz, dieses neutrale Land, ist auch das Ziel von Alex und Frieda Grüneberg. Aber nicht zum Skifahren. Das Ehepaar, das eigentlich in Berlin lebt, ist auf der Flucht vor den Nazis. Als Juden gelten sie im Großdeutschen Reich als vogelfrei. Eine Auswanderung ist schon im vorigen Jahr verboten worden, zugleich begannen die Deportationen von Jüdinnen und Juden in den deutsch besetzten Osten, nach Lodz, Riga oder Minsk. In den Tod.
Alex und Frieda Grüneberg sind nicht mehr die Jüngsten. Der Ehemann zählt 71 Jahre, seine Frau ist 60 Jahre alt. Schwer bepackt mit Koffern und Taschen machen sie sich auf den Weg. Es geht entlang der viergleisigen Bahnlinie ein Stück der Strecke zurück, die sie am Vormittag schon einmal genommen haben. Ihr Zug war auf seinem Weg entlang des Rheins kurz im Transit in der Schweiz gewesen. Aber da durfte er nicht anhalten. Fenster und Türen mussten geschlossen bleiben. Vielleicht wachten SS-Männer über die Passagiere.
All das erfährt man aus historischen Zeugnissen wie Briefen, Zeitungsartikeln, Protokollen. Fluchtgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg sind schwer zu rekonstruieren. Das Material zu einem Fall liegt selten an einem zentralen Ort und die Zeugen der Zeit sind inzwischen fast alle verstorben. Die taz hat mehrere Archive besucht und Hunderte Schriftstücke gesichtet. Dabei fand sich auch ein lange gesuchter Brief.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auch eine Landkarte von 1939 befindet sich unter dem Material. Auf ihr lässt sich der Grenzverlauf zwischen dem damaligen Deutschen Reich und der Schweiz nachvollziehen. In der Region um Basel macht die Grenze ungewöhnliche Verrenkungen. Östlich der Stadt markiert der Rhein den Grenzverlauf. Dann springt die Linie plötzlich über den Fluss, macht einen Bogen, bis sie südwestlich abbiegend wieder den Rhein erreicht.
Weil in Deutschland aus der Gefangenschaft geflohene Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Juden diese seltsame Beule zur Flucht vor dem Nazi-Regime entdeckt haben, muss der Reichsarbeitsdienst im Frühsommer 1942 den Abschnitt mit Stacheldraht absperren, bis zu acht Meter breit und drei Meter hoch.
Nur an zwei Stellen fehlt diese Sperre: an einem in der Schweiz gelegenen Waldstück, genannt „Eiserne Hand“. Und an dem Gelände der Eisenbahnlinie am Grenzacher Horn. Schließlich müssen die Züge weiterhin freie Durchfahrt haben. Doch nur etwa einhundert Meter von dieser Bahnlinie entfernt befindet sich, direkt am Rhein, eine Zollstation. Und deren Beamte gehen unregelmäßig auf Streife.
Das Ehepaar Grüneberg kommt auf seinem Weg durch die Nacht gut voran. Züge dürften um diese Uhrzeit kaum mehr unterwegs gewesen sein. Die Gegend ist unbebaut und kein Zöllner lässt sich blicken. Gegen 22.10 Uhr, so geht es aus einem Schweizer Protokoll hervor, passieren sie auf dem Bahndamm den deutsch-schweizerischen Grenzstein. Sie sind in Sicherheit. Aber dann entdeckt Frieda, dass sie unterwegs eine Tasche verloren hat. Es ist die mit dem verborgenen Bargeld und den Ausweisen. Sie läuft etwa zehn Schritte zurück, um diese Tasche aufzuklauben, obwohl ihr Mann sie noch darum bittet, dies nicht zu tun. Da tritt ihr in der Dunkelheit der deutsche Zollbeamte Karl Wolowski entgegen. Und hält Friederike Grüneberg fest.
Achtzig Jahre später, an einem sonnigen Frühlingstag Ende März 2022, läuft Horst Hallmann, Jahrgang 1935, mit dem taz-Reporter denselben Weg wie damals die Grünebergs. Der schmale Mann wächst als Kind eines Zöllners am Grenzacher Horn auf, doch der Vater ist 1942 längst zur Wehrmacht eingezogen. Die Mutter, Horst und sein Bruder leben in einer Wohnung des Zolls, nur wenige Schritte von der Grenze entfernt. Wie die anderen Familien auch, pflanzt man einen Gemüsegarten hinter dem Haus.
Die Grenze war hier nur durch einen einfachen Zaun ohne Stacheldraht markiert, erinnert sich Hallmann. Die Grenzstation war geschlossen, die Straße durch Panzersperren blockiert. Ja, er habe die Fluchten damals mitbekommen: „Aber ich habe selbst nichts gesehen. Man hat nicht darüber geredet.“ Der Bahnhof Grenzacher Horn, wo die Grünebergs damals ausgestiegen sind, ist seit über 40 Jahren außer Betrieb. Nur ein Bahnwärterhäuschen erinnert noch an die ehemalige Station. Es liegen auch nur noch zwei Gleise hier, nicht mehr vier.
Der Autor
Klaus Hillenbrand, Jahrgang 1957, recherchiert seit 20 Jahren zu den Schicksalen verfolgter Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg. In seinem letzten Buch „Das Amulett und das Mädchen“, erschienen 2019, rekonstruiert er die Leidensgeschichte eines jüdischen Kindes. Seit 15 Jahren verfolgt er zudem als taz-Reporter Gerichtsprozesse gegen mutmaßliche ehemalige NS-Verbrecher wie die frühere KZ-Sekretärin Irmgard F. oder den SS-Wachmann Josef S.
Die Recherche
Für diesen Text hat Hillenbrand zwei Monate recherchiert, Hunderte Schriftstücke gesichtet und sieben Archive in ganz Deutschland kontaktiert. Weitere Dokumente aus der Schweiz und Deutschland haben der pensionierte Lehrer Ulrich Tromm und die Schweizer Publizistin Lukrezia Seiler beigesteuert. Sie haben jahrelang zum Ehepaar Grüneberg geforscht. Unterstützung erhielt der Autor außerdem von der Berliner Gedenkstätte Stille Helden. Einige Bilder bekam er von Frieda Grünebergs Urenkelin.
Entlang der Bahnlinie ist rechts ein schmuckes Neubauviertel entstanden, dahinter, am Rande eines Friedhofs, liegt schon die Schweiz. Ein Trampelpfad biegt links zu den Gleisen ab. Dort steht ein historischer Stein mit der Nummer 149. Er markiert den Ort, wo die Grenze einen 90-Grad-Winkel einschlägt und quer über die Bahnlinie verläuft. Hier müssen Alex und Frieda Grüneberg damals die rettende Schweiz erreicht haben. Hier wartete der Zollbeamte Karl Wolowski, als Frieda ihre Tasche aufheben wollte.
Auf der anderen Seite der Gleise liegen ein aufgegebener Tennisplatz und verwilderte Gärten, durch Maschendrahtzäune nur mäßig abgesperrt. Hier befanden sich die Gemüsebeete von Hallmanns Familie. Und hier, ganz nahe an den Gleisen und der Grenze, lag auch das Hühnerhaus von Xaver Beck. Horst Hallmann kann sich noch gut an den Zollsekretär erinnern: „Etwa 1,75 Meter groß, ein ganz normaler Bürger.“ Vor dem Mehrfamilienhaus der Zöllner bleibt Hallmann stehen und weist auf einige Fenster hin: „Die Wohnung da, da lebte der Beck.“ Was Hallmann damals nicht wusste: Dieser Xaver Beck zählte zu den Fluchthelfern von Alex und Frieda Grüneberg.
Beck war nicht der einzige, der dem Ehepaar zur Flucht durch das Schlupfloch verhalf. Ein sich von Berlin über das baden-württembergische Weil am Rhein bis zum Grenzacher Horn erstreckendes Netzwerk war daran beteiligt, insgesamt mindestens sechs Personen. Drei von ihnen leben 1942 wie die Grünebergs in Berlin: Margit Pieper-Stückelberger, eine Schweizerin, verheiratet mit dem Deutschen Kurt Pieper, und ihre Bekannte Else Kluck, eine Arzthelferin, die Berliner Juden mit Lebensmitteln versorgt.
Auch in dem Freundeskreis der Eheleute Pieper sind viele Juden. Irgendwann drängt Else Kluck das Paar, Verfolgten bei der Flucht in die Schweiz zu helfen, und sie willigen ein. Pieper-Stückelberger erinnert sich an ihre Freundin Adelheid Suger in Weil am Rhein, die ein Glied in der Kette der Fluchthelfer sein könnte. Bald darauf besucht Suger das Ehepaar Pieper in der Reichshauptstadt. Auch sie stimmt zu, Jüdinnen und Juden aus dem Reich in die Schweiz zu schleusen.
Frieda verliert die Tasche mit Bargeld und Ausweisen
Zurückgekehrt nach Weil weiht Adelheid Suger ihre Nachbarin Luzia Schaub ein. Diese wiederum kontaktiert ihren Vetter: den NSDAP-Propagandaleiter von Grenzach und Zollsekretär Xaver Beck. Der Mann mit dem Hühnerhaus an der Grenze, der genau weiß, wann und wo sich die Grenzpatrouillen aufmachen. Warum ausgerechnet ein kleiner NSDAP-Funktionär sich der Helferkette anschließt, lässt sich nicht genau rekonstruieren.
Bereits am 23. November 1942 erreichen mit ihrer Hilfe eine Jüdin und ihre Tochter ohne Zwischenfälle die Schweiz. Weitere folgen. Zu Weihnachten soll das Ehepaar Grüneberg gerettet werden.
In ihren Lebenserinnerungen schreibt Margit Pieper-Stückelberger über diese Zeit und ihre Furcht, bei der Gestapo, der sie ohnehin schon als verdächtig gilt, aufzufliegen. „Heller Tag und dunkle Nacht“ ist der Titel des Schriftstücks. Es sind eng beschriebene maschinenschriftliche Blätter, gebunden in einem blauen Pappordner. Sie berichtet, wie sie von ihrer Bekannten Else Kluck immer wieder bedrängt wird. Sie „flehte, nur noch einem älteren Ehepaar zu helfen, gewiss zum letzten Mal, sie hätte alles schon eingeleitet“. Irgendwann lässt Kluck von dem Ehepaar ab und findet eine andere Lösung. „Wir fühlten uns befreit und atmeten auf.“
Wer waren die flüchtenden Frieda und Alex Grüneberg? Frieda wird 1882 als Friederike Nassau in Essen geboren. Ihre Familie ist offenbar im Bekleidungsgewerbe engagiert, zumindest betreibt ein Bruder von Frieda eine Agentur für Damenkonfektion. 1904 heiratet sie Alex Grüneberg, so steht es in der Heiratsurkunde im Stadtarchiv Essen. Die 21-Jährige ist dem Dokument zufolge „ohne Beruf“, was den damaligen Gepflogenheiten entspricht.
Das Paar bekommt erst eine Tochter und später einen Sohn. Die Familie lebt in Köln. Dort betreibt der 1871 in Westfalen geborene Alex Grüneberg zusammen mit einem Kompagnon unter dem Namen „Löwenstein und Grüneberg“ ebenfalls ein angesehenes Geschäft für Damenkonfektion. Alex Grüneberg, so erinnerte sich eine frühere Angestellte, sei ein ruhig auftretender Mann gewesen.
1929 gibt Alex Grüneberg seine selbstständige Existenz auf. Das Haus für Damenkonfektion wird vermietet und der 58-Jährige übernimmt den Posten des Zentraleinkäufers bei einem Textilkonzern. Grüneberg erhält ein für die damaligen Verhältnisse sehr hohes Gehalt, 45.000 Mark im Jahr plus Spesen. Noch im gleichen Jahr zieht das Paar nach Berlin.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten beginnt der unaufhaltsame Abstieg der Familie. Schon Ende 1933 wird Grüneberg aus seiner Stellung gedrängt, die Firma bald darauf „arisiert“. Zweimal müssen Alex und Frieda in Berlin die Wohnung wechseln, und das nicht zu ihrem Vorteil.
Aus einer herrschaftlichen Sechszimmerwohnung mit Konzertflügel, Mahagonischlafzimmer und Gemälden von Liebermann und Lesser Ury verkleinern sie sich auf Dreieinhalbzimmer. Um 1941 wird das Paar gezwungen, dort einen jüdischen Untermieter aufzunehmen. Die von den Nazis erhobene „Judenvermögensabgabe“ frisst Teile ihrer Ersparnisse auf.
Alex trägt nun den Zwangsnamen „Israel“, Frieda die Bezeichnung „Sara“. Beide müssen den „Judenstern“ tragen, wenn sie ihre Wohnung verlassen. Ihre Lebensmittelkarten sind mit einem großen „J“ gestempelt und für viele Waren ungültig, ihr verbliebenes Vermögen wird eingefroren. Ihrer Tochter gelingt noch 1938 die Auswanderung nach Palästina. Der Sohn kann sich kurz vor Kriegsbeginn 1939 nach England absetzen.
Alex und Frieda bleiben. In den Jahren darauf formiert sich der Kreis der Berliner Fluchthelfer. Im Zentrum steht die Zahnarztpraxis von Hans Levy, der als „Zahnbehandler“ nur noch Juden und Ausländer empfangen darf. Die Grünebergs sind Patienten bei Levy und mit ihm befreundet. Über ihn lernen sie den jüdischen Facharzt Dr. Bruno Peiser kennen, der ebenfalls Patient von Levy ist. Durch seine Ehe mit einer „Arierin“ ist dieser halbwegs vor Deportationen geschützt. Zu Levys Freundeskreis gehört außerdem das deutsch-schweizerische Ehepaar Pieper-Stückelberger. Und in seiner Praxis arbeitet die 46-jährige Arzthelferin Else Kluck.
Im August 1942 begeht der Zahnarzt Hans Levy aus Verzweiflung Suizid. Alle seine Auswanderungspläne haben sich zerschlagen, und seine fast 75-jährige Mutter ist soeben deportiert worden. Bald darauf bittet sein Patient und Freund, der Facharzt Peiser, die Zahnarzthelferin Else Kluck darum, die Flucht der Grünebergs zu organisieren. Kluck wiederum wendet sich an das Ehepaar Pieper woraufhin dieses ihre Freundin Adelheid Suger in Weil am Rhein kontaktiert. Offenbar gelingt es Kluck, in Berlin gefälschte Postausweise für die Grünebergs zu besorgen.
Am 16. Dezember 1942, so schreibt es Alex Grüneberg nach dem Krieg, fahren Frieda und er mit dem Zug von Berlin zu Adelheid Suger nach Weil am Rhein. Das ist gefährlich, denn Reisen mit der Eisenbahn sind Jüdinnen und Juden streng verboten. Den „Judenstern“, dieses Abzeichen der Ausgrenzung und Verfolgung, werden die beiden mit Sicherheit abgenommen haben.
Für fünf Tage kommt das Ehepaar bei Adelheid Suger unter. Die ebenfalls involvierte Nachbarin Luzia Schaub stattet das Ehepaar mit einer Kartenskizze zum Grenzverlauf aus, auch ihr Vetter an der Grenze, der Zollsekretär Xaver Beck, dürfte eingeweiht gewesen sein.
Am 24. Dezember besteigen die Grünebergs in Weil einen Zug. Er bringt sie zunächst nach Säckingen. Ein Ort, der etwa 30 Kilometer vom Grenzacher Horn entfernt liegt, dem Bahnhof an dem das Ehepaar die deutsch-schweizerische Grenze übertreten will. So hoffen sie, kein Aufsehen zu erregen. Von Säckingen aus geht es auf der gleichen Bahnstrecke etappenweise wieder zurück zum Grenzacher Horn.
Was waren das für mutige Menschen, die damals den vom Tode Bedrohten zur Flucht verhalfen? Warum nahmen sie das Risiko auf sich? Fragen, die auch Siegfried Schätzle umtreiben. Der pensionierte Ingenieur hat einen besonderen Grund dafür: Luzia Schaub, die Nachbarin von Adelheid Suger in Weil am Rhein, geboren 1903, war seine Großtante.
Schätzle hat seine Großtante noch gekannt. „Sie hat einen ans Herz gedrückt“, erinnert er sich. Aber über ihre Fluchthilfe hat Luzia Schaub niemals gesprochen. Wie es halt so war in den 1960er Jahren, als man die Vergangenheit ruhen lassen wollte. Als Schätzle vor ein paar Jahren von ihren gefährlichen Rettungsaktionen erfuhr, ist er ins Staatsarchiv nach Freiburg gefahren und hat dort in die Akten geschaut.
Luzia, eigentlich Luitgard, war mit einem Lokomotivführer verheiratet, der erst 1942 nach Weil am Rhein versetzt worden war. Deshalb bezweifelt Schätzle, dass sie über allzu große Ortskenntnisse verfügte. Auch kann sie ihre Nachbarin Adelheid Suger erst seit wenigen Monaten gekannt haben. Eine Tante von Luzia Schaub allerdings hatte als Hausangestellte bei Berliner Juden gearbeitet. Rührte daher ihre Unterstützung? „Luzia war immer hilfsbereit. Sie hat nie schlecht über andere Menschen gesprochen“, erinnert sich Schätzle. Aber er sagt auch: „Ich kenne ihre Motive nicht.“
Es gibt Hinweise, dass sich zumindest ein Teil der Helfer ab Januar 1943 ihre Schleusungen teuer bezahlen ließ. Die Rede ist von 6.000 Mark für jeden Flüchtenden. Es ist wahrscheinlich, dass Xaver Beck, der Zollsektretär und Vetter von Luzia Schaub, Geld nahm, denn nach dem Krieg fand man bei ihm 15.000 Mark. Ob dies auch für Luzia Schaub selbst gilt, ist ungewiss.
Ihre Rettungsaktionen sind dennoch über jeden Zweifel erhaben. Am 24. Januar 1948 schreibt eine der in die Schweiz Entkommenen an Eides statt: „Am 12. September 1943 flüchtete ich illegal in die Schweiz, weil ich durch die Gestapo bedroht war. Zu meiner Flucht verhalfen mir Frau Luzia Schaub, wohnhaft in Weil am Rhein und der Zollbeamte Xaver Beck, wohnhaft in Grenzach-Horn. Ich möchte besonders erwähnen, dass diese Tat aus rein menschlichen Gefühlen geschah.“
Die Zeugin führt sieben weitere Personen auf, die sich dank der Hilfe der beiden retten konnten – Berliner Jüdinnen und Juden, so wie die Grünebergs. Die Berliner Gedenkstätte Stille Helden kommt auf insgesamt 15 Menschen, die dank Adelheid Suger, Luzia Schaub und Xaver Beck in die Schweiz entkommen konnten.
Aber was geschah mit Frieda Grüneberg, nachdem sie an Heiligabend 1942 von dem Zollbeamten Karl Wolowski festgenommen worden war?
Einen Tag nach dem missglückten Grenzübertritt, am 25. Dezember 1942, gibt Wolowski zu Protokoll, Friederike Grüneberg habe ihn angefleht, sie zu ihrem Mann zu lassen, der sich wenige Meter entfernt auf Schweizer Gebiet befand. Und weiter: „Als ich ihre Bitte ablehnte, hörte ich ebenfalls von Schweizer Seite her eine männliche Stimme, die mir zurief, Herr Wachtmeister, lassen Sie doch um Gottes Willen meine Frau zu mir.“ Wolowski reagiert nicht auf diese Bitten. Gemeinsam mit einem Kollegen bringt er Frieda Grüneberg zur Zollstation.
Die deutsche Akte deckt sich mit einem Papier der Schweizer Polizei vom selben Tag. Unter „Betrifft: jüdischer Flüchtling“ heißt es in dem Protokoll, das die illegale Einreise von Alex Grüneberg vermeldet: „Als sich die Frau auf Schweizerboden befand, bemerkte sie den Verlust der Tasche und kehrte wieder um, um die verlorene Tasche auf deutschem Boden zu holen. Als sie auf deutschen Boden zurücktrat, wurde sie von deutschen Beamten angehalten.“
Friederike Grüneberg wird auf der Zollstation körperlich durchsucht und anschließend scharf vernommen. Man findet bei ihr geringe Mengen an Devisen, verschiedene, offenbar gefälschte Ausweispapiere, darunter Postausweise, und eine zerrissene Kartenskizze.
Dem Vernehmungsprotokoll zufolge gibt Grüneberg an, mit dem Zug von Berlin nach Freiburg und dann abschnittsweise weiter Richtung Weil gefahren zu sein. Die Orte der Unterkünfte und ihre Gastgeber seien ihr nicht bekannt gewesen, ebenso wenig wie die Adressen. Protokollant Wolowski notiert am Schluss: „Frau Grüneberg hat die Unterschrift des Protokolls verweigert mit der Begründung, sie lasse sich lieber totschießen.“
Um 2.30 Uhr am Morgen des 25. Dezembers 1942 ist die Vernehmung beendet. Grüneberg wird in eine Zelle gesperrt.
Die Leibesvisitation, so erinnert sich der damals siebenjährige Horst Hallmann aus der Zöllnerfamilie am Grenzacher Horn, sei von einer Putzfrau durchgeführt worden, die damals ihre Nachbarin gewesen sei. Das Zimmer, in das Friederike Grüneberg anschließend eingesperrt wurde, sei keine Arrestzelle gewesen, sondern ein Umkleideraum.
Noch in derselben Nacht begeht Frieda Grüneberg in der Haft Suizid. Im deutschen Polizeibericht heißt es: „Am 25. Dezember 1942, um 5 Uhr, wurde die verheiratete Jüdin Friederike Sara Grüneberg, geb. Nassau, im Untersuchungsraum des Zollamtes Grenzacher-Horn erhängt aufgefunden.“ Sie habe dazu zusammengeknüpfte Taschentücher verwendet. Ein hinzugezogener Arzt habe den Tod bestätigt.
In Entschädigungsakten aus den 1950er Jahren findet sich Ende April 2020 Grünebergs Abschiedsbrief. Darin schreibt Frieda: „Ich konnte dieses schmachvolle Leben nicht mehr ertragen und habe vorgezogen, ein freiwilliges Ende zu bereiten. Ich hatte nur den einen Wunsch meinen Mann u. Kinder wieder zu sehen. Das ist mir versagt worden. Mein letzter Wunsch ist darum meinen Mann in Kenntnis zu setzen. Flüchtlingslager in der Schweiz.“
Adelheid Suger, zitiert von Margit Pieper
Gut drei Jahre später, im Januar 1946, erklärt der Witwer Alex Grüneberg gegenüber den französischen Besatzungsbehörden in Deutschland, dass sich im Boden der verlorenen Tasche rund 8.000 Mark befunden hätten. Dieses Geld bleibt verschwunden. Man kann nur spekulieren, dass es der Zollbeamte Karl Wolowski eingesteckt hat.
Am Morgen des 26. Dezember 1942 klingelt es an der Wohnungstür des Ehepaars Pieper in Berlin. Es ist Adelheid Suger, die Helferin aus Weil am Rhein. Sie ist die Nacht durchgefahren, um die Nachricht über die missglückte Flucht zu überbringen. In Margit Piepers Aufzeichnungen ist die Begegnung mit Suger beschrieben: „‚Was um Himmels Willen ist geschehen?‘, fragte ich stockend. Wir befürchteten, alles sei entdeckt. Sie sank zunächst auf einen Stuhl, und als sie sich etwas erholt hatte, erzählte sie: ‚Es ist etwas Furchtbares geschehen mit dem alten Paar und ich komme, Sie zu warnen, weil ich Ihnen nicht alles schreiben konnte.‘“
Piepers Erinnerungen über Sugers anschließenden Bericht decken sich bis auf wenige Details mit dem, was in den deutschen Polizeiakten und in einem späteren Bericht des entkommenen Ehemanns Alex Grüneberg steht.
Die Furcht vor einer Entdeckung des Helferkreises durch die Gestapo ist begründet. Aber es geschieht nichts. Frieda Grüneberg hat in den letzten Stunden ihres Lebens dichtgehalten. Dem Ehepaar Pieper gelingt es im folgenden Jahr, legal und ohne Vorkommnisse in die Schweiz zu reisen. Sie kommen nicht mehr nach Nazi-Deutschland zurück.
Einige Monate später, am 20. März 1943, lässt der Oberfinanzpräsident die Berliner Wohnung von den Grünebergs räumen. Die Möbel werden auf einen Wert von 245 Mark geschätzt und versteigert, ihr gesamtes Vermögen vom Deutschen Reich eingezogen. Der Oberfinanzpräsident übernimmt die ausstehenden Mietzahlungen und begleicht die Restschulden des Ehepaars in Höhe von 23,04 Mark für Strom. Die Gestapo stellt fest, dass Alex Grüneberg „flüchtig“ sei.
Die Flucht von Frieda jedoch ist gescheitert. Aber nicht wegen einer Tasche mit 8.000 Mark. Sondern aufgrund der Entscheidung der Nazis, alle Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich bürokratisch geregelt und registriert in Osteuropa zu ermorden. Hätte Frieda Grüneberg sich nicht selbst getötet, so wäre sie mit Sicherheit aus der Haft direkt in ein deutsches Vernichtungslager verbracht worden. Es existieren genügend Beispiele dafür, dass dies bei anderen gescheiterten Fluchtversuchen so geschehen ist.
Nach dem Tod von Frieda Grüneberg bleiben die Helfer dank ihres Schweigens über den Helferkreis zunächst unbehelligt. Erst knapp anderthalb Jahre später, im Sommer 1944, schnappt die Gestapo doch noch zu. Ein Flüchtender ist festgenommen worden und sagt aus. Am 7. Juli werden Luzia Schaub und ihr Ehemann festgenommen, drei Tage später trifft es Adelheid Suger und Xaver Beck. Die Verhaftungswelle betrifft auch zwei Berliner Kontaktpersonen.
Im Herbst 1944 zieht der Volksgerichtshof das Verfahren an sich. Ermittelt wird wegen „Feindbegünstigung“. Darauf steht die Todesstrafe. Die Beschuldigten aus Baden warten verstreut in drei Gefängnissen auf den Beginn ihres Prozesses, der sie das Leben kosten kann.
Doch dazu kommt es nicht mehr. Mit der Besetzung Deutschlands ist auch die Haft der Retter beendet. Für sie ist es wortwörtlich eine Befreiung. Alex Grüneberg wandert 1945 zu seinem Sohn ins englische Leeds aus. Er stirbt 1947. Es beginnen zähe Verhandlungen zwischen den Kindern der Grünebergs und deutschen Behörden um eine Entschädigung. Bis diese abgeschlossen werden können, vergehen fast 20 Jahre.
Auch das Gedenken an die Flucht der Grünebergs hat erst nach Jahrzehnten wirklich Form angenommen. Etwa drei Kilometer vom Grenzstein Nummer 149 entfernt, dort wo an Weihnachten 1942 die Flucht von Frieda Grüneberg scheiterte, befindet sich ein Friedhof. Dort steht auf einer Anhöhe an einer kleinen Mauer ein Stein ohne Grab, der lange Rätsel aufgab.
Der Rentner Siegfried Schätzle wohnt heute nur ein paar Straßen weiter. Er war es, dem dieser Stein bei den Recherchen über seine Großtante Luzia Schaub als erstem auffiel. Dabei muss er hier schon länger stehen, vermutlich seit den 1950er Jahren. Doch Unterlagen darüber, wer ihn in welchem Auftrag gesetzt hat, sind nicht mehr aufzufinden. Was Schätzle allerdings findet, ist ein in Grenzach ausgestellter Totenschein auf Friederike Grüneberg.
Der nahezu schmucklose Stein trägt die Inschrift „Unserer lieben Mutter Frieda Grünberg 1880–1942“. Dem Text nach müssen ihre Kinder die Auftraggeber gewesen sein. Jedoch weist die Inschrift Fehler auf, denn die Verstorbene wurde 1882 geboren und im Nachnamen fehlt ein „e“. Allerdings taucht dieser Fehler schon in den Entschädigungsunterlagen auf. Das wiederum könnte damit zusammenhängen, dass der nach England ausgewanderte Sohn seinen Nachnamen tatsächlich in „Gruenberg“ geändert hatte.
Jahrzehntelang hat kein Hinweis die Besucher des Friedhofs über den Gedenkstein für Frieda Grüneberg aufgeklärt. Jetzt ist es anders. Denn nach Schätzles Recherchen hat der Verein für Heimatgeschichte der Gemeinde eine kleine Tafel neben dem Stein aufgestellt. Auf ihr steht, was in der Weihnacht von 1942 am Grenzacher Horn geschah.
Nein, das war keine Tragödie. Es war der willentlich durch einen Terrorstaat provozierte Tod einer Frau, die keinen Ausweg mehr wusste. Und diese Ausweglosigkeit war das Ergebnis streng bewachter und geschlossener Grenzen.
Bei dem Spaziergang im Frühjahr 2022 entlang der Bahnlinie sind wir ein paar Mal über die grüne Grenze in die Schweiz gelaufen. Kontrollen gab es nicht. An der Zollstation „Grenzacher Horn“ fahren die Auto- und Radfahrer durch. Es ist nicht so, dass sie durchgewunken werden. Es ist überhaupt niemand da, der winken könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja