Fischsterben in der Oder: Woher kam die Giftwelle?
Experten in Polen und Deutschland rätseln über den Ursprung der Umweltkatastrophe in der Oder. Derweil gibt es Hoffnung auf ein Ende des Sterbens.
Das Rätselraten um das massenhafte Fischsterben in der Oder bringt immer neue plausibel klingende, aber auch völlig absurde Theorien hervor. Die neueste besagt, dass eine hochgiftige Algenblüte, die normalerweise nur in Brackwasser vorkommt, den deutsch-polnischen Grenzfluss vergiftet haben könnte. Extremes Niedrigwasser, hohe Temperaturen und der erhöhte Salzgehalt in der Oder hätten die Algenblüte begünstigt und so das massenhafte Fischsterben verursacht oder zumindest dazu beigetragen. Die Algenblüte würde auch den ungewöhnlich hohen Sauerstoffgehalt im sommerlich warmen Flusswasser erklären. Über die Photosynthese setzen Algen Sauerstoff frei.
Für plausibel halten diese These sowohl Christian Wolter vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin als auch Wolf von Tümpling vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Magdeburg. Während Wolter seit rund 30 Jahren das Ökosystem der Oder erforscht und sich insbesondere mit der Revitalisierung von Flüssen beschäftigt, untersucht von Tümpling vor allem die Schadstoffdynamik in Fließgewässern. Allerdings, so geben beide zu bedenken, kommen diese giftigen Algen und Algenblüten vor allem in stehenden Gewässern vor, beispielsweise in Stauseen.
In der Nähe von Olawa bei Breslau, wo die Ökokatastrophe am 26. Juli ihren Anfang nahm, gibt es aber keinen großen Stausee. Infrage kommen könnte aber der Bajkal-See, der rund 20 Kilometer von Breslau entfernt liegt. Diese geflutete Kiesgrube ist touristisch wenig erschlossen, es gibt kaum Hinweisschilder, und auch die Zufahrtswege wurden schon lange nicht mehr instandgesetzt. Doch bei Freizeitanglern gilt der See als Geheimtipp.
Möglicherweise hat jemand in diesem eher unzugänglichen, stehenden Gewässer eine hochkonzentrierte Salzlösung verklappt, die dann gemeinsam mit der giftigen Algenblüte zum Massensterben der Fische führte. Im Netz veröffentlichte Fotos von entsetzten Freizeitanglern zeigen Tausende Fischkadaver, die in einer grünlila schillernden Brühe treiben. Erst vor ein paar Tagen begannen Feuerwehrleute damit, die toten Fische zu bergen. „Was wir hier auf der Oberfläche noch sehen, entspricht etwa einer Tonne Fisch“, sagt einer der Feuerwehrmänner. Die ehemalige Kiesgrube ist über einen Kanal mit der Oder verbunden. Hier in der Nähe begann die Katastrophe.
„Giftcocktail“ durch Bauarbeiten?
Ob die derzeit hohe Salzkonzentration in der Oder aus dem Bajkal-See stammt oder doch von einem oder mehreren Unternehmen, die entlang der Oder ihre Produktionsstätten haben und ihre umweltschädlichen Abwässer direkt in den Fluss leiten, ist nicht sicher. Zwar geht die Polizei, die für die Festsetzung des Täters eine Million Złoty (210.000 Euro) ausgesetzt hat, zahlreichen Hinweisen der Bevölkerung nach – doch bislang ohne jeden Erfolg.
Fraglich ist auch, ob die hochgiftigen Algen, die eigentlich nur in stehenden Gewässern vorkommen, eine Hunderte Kilometer lange Reise mit der Strömung eines Flusses überstehen würden. Bei einer mutierten Alge wäre das denkbar.
Eine weitere Theorie geht von einem „Giftcocktail“ aus, der durch intensive Bauarbeiten auf der polnischen Seite der Oder entstanden ist. Giftstoffe, die sich über Jahrzehnte im Sedimentgestein des Oder-Ufers festgesetzt hätten, seien durch Bagger über viele Kilometer hinweg gelöst und ins Flusswasser gespült worden. Bedingt durch Niedrigwasser und hohe Temperaturen hätte der „Giftcocktail“ seine verheerende Wirkung auf Fische, Krabben und Schnecken entfalten können, ohne dass die Labore in der Lage gewesen wären, einen oder zwei konkrete Giftstoffe zu identifizieren. So hatten deutsche Forschungen zwar Quecksilber in einer Wasserprobe entdeckt, allerdings in einer zu geringen Konzentration, als dass dies allein für das Massensterben der Fische hätte verantwortlich sein können.
Die Todeswelle – allein die polnische Feuerwehr holte in den vergangenen Tagen rund 100 Tonnen Fischkadaver aus der Oder – wird nun am Stettiner Haff und der Oder-Mündung in die Ostsee erwartet. Viele Anwohner hoffen, noch mal mit einem blauen Auge davonzukommen. Sogenannte Ölbarrieren, die quer durch den Fluss gezogen werden, sollen verhindern, dass tote Fische ins Haff treiben. Vielleicht kommt auch nur eine verdünnte und kaum noch schädliche Version der ursprünglichen Giftwelle in Stettin an. Das zumindest ist die große Hoffnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel