Filmregisseurin über „Systemsprenger“: „Existenzielles berühren“
Nora Fingscheidts Filmdebüt „Systemsprenger“ ist für den Oscar nominiert. Ein Gespräch über schwierige Recherchen und aggressive Farben.
taz: Frau Fingscheidt, was hat Sie zu „Systemsprenger“ inspiriert?
Nora Fingscheidt: Ich wollte immer schon einen Film über ein wildes, wütendes Mädchen machen, eins, das nicht niedlich ist. Die Story dazu musste ich aber erst suchen. Als ich bei einer Auftragsarbeit für die Caritas ein Heim für wohnungslose Frauen in Stuttgart porträtierte, traf ich eine Vierzehnjährige, die gerade dort eingezogen war. Damals hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Systemsprenger“ – ein Kind, das aus sämtlichen Systemen herausgefallen ist, durch alle Institutionen durch ist.
Warum hat Sie das fasziniert?
Das hat einerseits mit mir persönlich zu tun, ich war auch ein recht anstrengendes Kind, in der Schule musste ich ständig aus der Klasse raus. Ich weiß noch, wie sich das anfühlt, wenn man den Leuten „zu viel“ ist. Dennoch bin ich natürlich in einem stabileren Rahmen aufgewachsen. Andererseits berühren einen Menschen, die eine krasse, aber destruktive Energie ausstrahlen – wenn es sich um Rockstars handelt, himmeln wir sie an! Bei Kindern wie Benni ist so etwas jedoch tragisch.
Nora Fingscheidt, 1983 in Braunschweig geboren, war ab 2003 in Berlin beim Aufbau der selbst organisierten Filmschule filmArche beteiligt. Anschließend studierte sie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Ihr Dokumentarfilm „Ohne diese Welt“ erhielt 2017 den Max-Ophüls-Preis. „Systemsprenger“, ihr Spielfilmdebüt, lief dieses Jahr im Wettbewerb der Berlinale.
Hatten Sie bei der Arbeit am Film Angst, sich von dieser Tragik zu sehr berühren zu lassen, sich nicht distanzieren zu können?
Es gab eine Zeit in der Recherche, in der es tatsächlich zu viel für mich wurde. Alles überlagerte sich, ich sah nur noch Kindesmisshandlung überall, konnte nicht mal mehr U-Bahn fahren, ohne dauernd daran erinnert zu werden. Mein Weltbild hatte sich wirklich verdüstert. Da musste ich ein Jahr Pause machen, habe einen anderen Film gemacht. Danach ging es aber wieder.
In Ihrem Film ist glücklicherweise nicht nur die destruktive Kraft groß, sondern Benni wirkt überhaupt sehr stark.
Wir haben versucht, Leichtigkeit und Humor reinzubringen, eben das Kindliche der Geschichte und der Figur zu betonen. Selbst Kinder in der Kinderpsychiatrie lachen oft, das ist ein Überlebensinstinkt.
Den größten Tiefpunkt erlebt man in dem Film quasi über Bande, über die Figuren, die um Benni herum sind.
In der Recherche sind mir oft Menschen begegnet, die sich über ihre eigenen Grenzen hinaus für ein Kind engagieren, und dann selbst irgendwann an einen Tiefpunkt kommen, nicht mehr weiter können. Berufe in der Kinder-und Jugendhilfe stellen einen immer vor diese Herausforderung: Du musst dich mit den Kindern verbinden, um etwas zu bewirken – aber wenn die Verbindung zu tief ist, kann es sein, dass man selbst vor die Hunde geht. Manche finden diese Balance – ich nicht, ich würde die Kinder alle adoptieren wollen. Obwohl ich als Regisseurin, gerade beim Dokumentarfilm, eh auch in meiner Arbeit immer genau diese Balance suchen muss.
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Der Film
Ist Ihr Film auch eine Kritik am bestehenden System, in das sogenannte schwierige Kinder geraten?
Ja, aber die Diskussion müssen andere führen – ich kann von außen beobachten, bin keine Fachfrau. Doch ich kann sagen, dass die Menschen in den Jugendämtern extrem überlastet sind. Ein Charakter wie Frau Bafané, die im Film von Gabriela Maria Schmeide gespielt wird, bestünde im echten Leben aus sieben verschiedenen Personen, nicht nur einer. Jede von denen hätte 70 Fälle auf dem Schreibtisch – wenn kein Kollege krank ist.
Haben Sie Reaktionen aus den genannten Institutionen bekommen?
Absolut, jede Menge. Wir haben immer noch extrem viele Fachveranstaltungen, bis in den Oktober hinein, mit Jugendämtern, Hilfsorganisationen und so weiter. Viele bedanken sich dafür, dass es einen Film über ihre Arbeit gibt. Manche finden den Film auch unrealistisch – diesen Dialog versuchen wir dann zu führen.
Wie lautet die Kritik?
Zum Beispiel habe ich Dinge verdichtet. Dass der Antiaggressionstrainer Micha, gespielt von Albrecht Schuch, Benni zu einem Zeitpunkt mit nach Hause nimmt – offiziell würde das kein Helfer tun. Ich habe in der Recherche dennoch mit ein paar Leuten gesprochen, die zugaben, so etwas getan zu haben. Manche Dinge habe ich vereinfacht – ich habe keinen sexuellen Missbrauch mit ins Buch geschrieben, der bei einem Kind wie Benni im echten Leben vermutlich eine Rolle gespielt hätte. Das hätte aber ein neues Riesenthema aufgemacht, und die Auseinandersetzung mit Bennis Gewalt wäre eine andere geworden.
Micha ist eine wichtige Person für Benni, wie haben Sie Albrecht Schuch gefunden?
Das war toll: Am Anfang sah Albrecht ganz anders aus, hatte blondes Haar, wie ein Surfer. Wir haben ihm die Haare abrasiert, und dabei kam diese wahnsinnig schöne Narbe zutage, die er am Kopf hat – ein Geschenk für die Regie, für die Authentizität des Charakters. Die passt so gut zu seiner Vorgeschichte! Albrecht hat sich voll reingeschmissen, hat Rollenspiele mit Jugendlichen gemacht, Survivaltraining, hat Antiaggressivitätstrainer befragt.
Die Musik und die Farbästhetik des Films scheinen Benni widerzuspiegeln.
Ja, wir wollten die Energie von diesem Kind umsetzen, dieses „Zuviel“ in alle Bereiche des Filmemachens transportieren, angefangen mit der Geschichte – die ist eigentlich zu lang, man sollte denken: Ich kann nicht mehr, wann hört das endlich auf? Das ist aber Absicht! Es hat mit ihrer Energie zu tun. Und die Musik, die manchmal nervt und stört, aber auch etwas Kindliches hat, der wilde Schnitt, die grellen Farben, die warmen, kräftigen Töne wie Rot, Gelb, Orange, Pink – das ist alles eine Übersetzung von Bennis Charakter. Die Farben verändern sich im Film ja auch – immer wenn sie bei ihrer Mutter war, trägt sie beispielsweise Rot. Ich wollte eine sinnliche Erfahrung schaffen.
Wenn man sich die Rezeption und die Preise anschaut, scheint die Geschichte universal gut zu funktionieren. Und der Film geht für Deutschland ins Oscar-Rennen.
Ja, wir sind überwältigt. Bis heute hat der Film 21 Preise gewonnen, in den unterschiedlichsten Ländern, Taiwan, Chile, der Ukraine … das bläst mir fast den Kopf weg! Er scheint etwas Existenzielles zu berühren, vielleicht das Bedürfnis des Menschen nach Liebe, und das, was passiert, wenn dieses Bedürfnis verweigert wird. Darüber hinaus hat er uns Jobmöglichkeiten verschafft – Helena dreht jetzt mit Tom Hanks! Aber ich weiß auch, dass es beim nächsten Film wieder ganz anders werden kann.
Nach der Erfahrung mit dem Film – gibt es Ihrer Ansicht nach Kinder, die besser nicht in ihrer Familie leben sollten?
Das ist sehr schwer zu sagen, das muss man nach dem Einzelfall entscheiden. Momentan ist der Status quo in der Pädagogik, das Kind so lange wie möglich in der Familie zu lassen, egal wie problematisch das Elternhaus ist. Noch in den 90ern war das anders, da hat man die Kinder möglichst schnell rausgeholt. Es kommt auf die Eltern, die Alternativen, die Art der Hilfe an. Ich weiß leider auch nicht, was besser ist.
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