Netflix-Film „The Unforgivable“: Zurück in die Gesellschaft

Der Spielfilm „The Unforgivable“ schickt US-Schauspielerin Sandra Bullock in den aussichtslosen Kampf gegen das System.

Sandra Bullock als Ex-Strafgefangene in "The Unforgivable"

Vom Leben gezeichnet: Sandra Bullock als „Ruth Slater“ Foto: Netflix

Seit seiner Premiere auf der 69. Berlinale hat der Film „Systemsprenger“ eine Woge der Begeisterung ausgelöst, mit 33 Preisen wurde das Drama geehrt. Das Aufsehen, das es erregte, war alles andere als absehbar. Die Geschichte der neunjährigen Benni, die ob ihrer Wutausbrüche durch alle sozialen Raster fällt, ist eigentlich zu speziell, um einen solchen Rummel auszulösen. Noch dazu handelte es sich um ein Spielfilmdebüt, die junge Hauptdarstellerin war zuvor unbekannt.

Die heute 13-jährige Helena Zengel hat den Schritt auf das internationale Parkett vollzogen: An der Seite von Tom Hanks spielte sie im Western „Neues aus der Welt“, der bei Netflix zu sehen ist. Auch Regisseurin Nora Fingscheidt hat es zum kalifornischen Konzern gezogen. Nach einem wenig beworbenen Kinostart ist ihr zweiter Langfilm „The Unforgivable“ nun ebenfalls bei besagtem Streaming-Anbieter zu sehen.

Was Fingscheidt an dem Projekt reizte, kann man sich leicht vorstellen. „Systemsprenger“ lenkte mit Benni, die von Pflegefamilien in Heime und dann auch in die Psychiatrie weitergereicht wird, seine Aufmerksamkeit auf ein Schicksal, das von den rigiden Strukturen abhängt, die es umgeben. Von der Unfähigkeit von Systemen, sich des Einzelnen und seiner Vorgeschichte individuell anzunehmen, handelt auch „The Unforgivable“.

Rückblenden in die Vergangenheit

Ruth Slater (Sandra ­Bullock) wird nach 20 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Durch Erinnerungsfetzen wird angerissen, was sie in ihre Situation gebracht hat. Während sie ihre Habseligkeiten packt, sieht sie den Suizid ihres Vaters vor sich; ihren Blick aus dem Fenster, wovor sich Polizisten in Stellung bringen, um eine Zwangsräumung zu vollstrecken; ihre Drohung, das Gewehr zu benutzen, sollte jemand in das Haus eindringen; dazwischen immer wieder ihre verstörte kleine Schwester, dann fällt ein Schuss, ein Polizist ist tot.

„The Unforgivable“. Regie: Nora Fingscheidt. Mit Sandra Bullock, Vincent D’Onofrio u. a. USA/Deutschland 2021, 112 Min. Läuft bei Netflix

Mit diesem gängigen Mittel einer wackligen Montage, genutzt, um gleich zu Beginn ein Mysterium um den tatsächlichen Tathergang aufzubauen, vermittelt „The Unforgivable“ den Eindruck, ein recht gewöhnlich inszeniertes Sozialdrama ohne große Überraschungen zu werden. Ein Eindruck, der sich über die folgenden knapp zwei Stunden bestätigt, mehr noch durch die erwartbaren Figuren.

Ruth Slater offenbart sich schnell als schweigsame, aber zähe Heldin. Sie ist eine, die vom Leben gezeichnet ist, die sich eine „harte Schale“ zugelegt hat, um weitermachen zu können, darunter aber ein „lauteres Herz“ trägt. Charakterzüge, die in Filmen zwar hauptsächlich Männern zugeschrieben werden, aber auch an einer weiblichen Figur nicht sehr originell sind.

Neues Leben

Diese Eigenschaften zeigen sich bereits im Gespräch mit ihrem Bewährungshelfer (Rob Morgan), der sie über die Spielregeln aufklärt: kein Kontakt zur Opferfamilie, zu Vorbestraften oder ihrer mittlerweile 25-jährigen Schwester. Selbstverständlich hat er damit die Personengruppen umschrieben, die für ihr neues Leben eine maßgebliche Rolle spielen werden. Selbstverständlich versichert sie ihm, sich an all seine Ratschläge zu halten, lehnt aber jede weitere Hilfe ab und bedankt sich ganz freundlich fürs Mitnehmen.

Nachdem sie mithin die Marktwirtschaft als ein nüchtern die Besitzverhältnisse organisierendes System in die verzweifelte Lage gebracht hat, das Haus, das sie sich ohne die finanzielle Unterstützung des Vaters nicht mehr leisten kann, bis aufs Äußerste zu verteidigen, um die dann drohende Trennung von ihrer Schwester zu vermeiden, wurde sie von einem anderen, dem nicht weniger hartherzigen US-Gefängnissystem absorbiert.

Jetzt muss sie mit dem an ihr haftenden Makel einer „Cop-Killerin“ zurück in das System Gesellschaft finden.

Routiniert durchexerziert

Routiniert exerziert „The Unforgivable“ durch, dass sie darin keinen Platz mehr hat. Die in ihrer Stumpfsinnigkeit teils unfreiwillig komisch wirkenden Söhne des getöteten Polizisten (Will Pullen und Tom Guiry) wollen Rache an ihr nehmen, ihr schockverliebter Kollege (Jon Bernthal) scheint urplötzlich das Interesse an ihr zu verlieren, als er von ihrer Vergangenheit erfährt, und die neuen Eltern (Linda Emond und Richard Thomas) ihrer Schwester Katie (Aisling Franciosi) sehen in ihr schlicht eine Gefahr, die es fernzuhalten gilt.

Einzig das Paar (Viola Davis und Vincent D’Onofrio), das sich im „Mörderhaus“ eingerichtet hat, steht ihr nach langem Zögern bei. Der als Anwalt tätige Ehemann stellt den Kontakt zu Katies Eltern her. Bis es Zeit für die geschwisterliche Begegnung ist, braucht es allerdings noch den ein oder anderen wenig plausiblen Plot-Twist, wovon einer die Protagonistin endgültig als Märtyrerin entlarvt und „The Unforgivable“ ins Melodramatische kippen lässt.

Die Grundthematik vom ewigen Scheitern am System ist vergleichbar zu Fingscheidts Debüt. Dass sie hier nicht zündet, liegt daran, dass sich das Augenmerk auf Missstände richtet, die schon unzählige Male filmisch und seriell, dazu auf fantasievollere Art abgehandelt wurden. Die Geschichte aus „The Unforgivable“ wurde sogar wortwörtlich bereits erzählt: Sally Wainwright schuf 2009 die Miniserie „Unforgiven“, auf der der Film basiert. Bei Netflix hat das Prinzip „Mehr vom Gleichen“ aber ja bekanntlich System.

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