Filmfestspiele von Venedig: Menschen als Waffen
Lidokino 8: Bei den Filmfestspielen von Venedig ging es um die Realität an der polnisch-belarussischen Grenze und einen Philosophiedozenten als Auftragsmörder.
A uf dem Lido blieb die Wirklichkeit im Wettbewerb bisher etwas auf Abstand. Sei es im direkten Sinn, dass die Geschichten mit fiktiven Sujets spielen, die wie „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos oder „La Bête“ von Bertrand Bonello im Fantastischen zu Hause sind, oder zumindest so, dass die Realität zeitlich entfernt liegt, in historischen Stoffen wie „Bastarden“ von Nikolaj Arcel, der ein Schicksal aus dem 19. Jahrhundert erzählt.
Etwas näher an der Gegenwart liegen die Biopics „Maestro“ von Bradlee Cooper über den Dirigenten Leonard Bernstein und Sofia Coppolas „Priscilla“.
In der aktuellen Gegenwart, beginnend im Jahr 2021, hat die polnische Regisseurin Agnieszka Holland ihren Spielfilm „Zielona Granica“ (Grüne Grenze) angesiedelt. Die Grenze des Titels ist die dem Wort nach eigentlich unscharfe Demarkationslinie zwischen Polen und Belarus, wo bis heute Migranten festsitzen.
Belarussiche Grenzsoldaten eskortieren die ins eigene Land gelockten Flüchtlinge über die Grenze nach Polen, wo die Angekommen von polnischen Grenzsoldaten wieder über die Grenze zurückgebracht werden. Inzwischen hat Polen einen Zaun errichtet.
Auf der anderen Seite
Den Konflikt, der sich jüngst weiter zugespitzt hat, schildert Holland am Beispiel einer kurdischen Familie aus Syrien, die über die Türkei nach Belarus fliegt, von wo sie weiter nach Schweden zu einem Verwandten wollen. Im Flieger reichen die Stewardessen den Frauen noch Rosen und heißen die Passagiere in Belarus willkommen.
Dann geht es weiter im Transporter an die Grenze. Bis sie auf der anderen Seite aufgegriffen werden. Es braucht einige Zeit, bis ihnen klar wird, dass die versprochene Weiterreise nicht möglich ist.
Holland zeigt die Menschenrechtsverletzungen an der Grenze in aller Drastik, lässt schwangere Frauen aus Transportern werfen, sodass sie ihr Ungeborenes verlieren, zeigt Männer, die verprügelt werden, weil sie gegen die Behandlung durch die Grenzer protestieren. Die migrantische Perspektive verbindet Holland mit dem Alltag eines polnischen Grenzsoldaten, der zu Hause selbst eine schwangere Frau hat.
Von einem vorgesetzten bekommt er derweil eingehämmert, dass die Personen, die über die Grenze fliehen, keine Menschen seien, sondern „lebende Geschosse“, von Belarus als hybride Kriegsführung eingesetzt. Dem gegenüber steht die Arbeit einer Gruppe von Flüchtlingshelfern, die die Menschen mit Lebensmitteln, Kleidung und Arzneimitteln versorgen.
Fortbestehendes Unrecht
Gefilmt ist „Zielona Granica“ in nüchternem Schwarzweiß, wobei sich Holland bemüht, das Schwarzweiß in ihrer Anklage gegen dieses bis heute fortbestehende Unrecht nicht überhandnehmen zu lassen. So bekommt der Grenzsoldat irgendwann Gewissensbisse und beginnt, bei Kontrollen von Transportern nicht mehr so genau nachzusehen, ob sich hinter der Ladung im Frachtraum womöglich Menschen verstecken.
Dem Ernst von „Zielona Granica“ steht ein anderer auf Tatsachen beruhender Stoff entgegen, den der US-amerikanische Regisseur Richard Linklater in „Hit Man“ außer Konkurrenz zu einer leichten, doch nicht leichtgewichtigen Krimikomödie verarbeitet hat. Sein Pro-tagonist Gary Johnson (Glen Campbell) lehrt im Hauptberuf Philosophie an der Universität von New Orleans.
Jenseits des Campus hilft er der Polizei bei Ermittlungen, und zwar als „hit man“. Dieser vermeintliche Berufskiller führt Gespräche mit potenziellen Kunden, bis zu dem Punkt, an dem diese ihren Auftrag erteilen und ihm Geld überreichen. Von da ab übernehmen die Kollegen.
Die Komplikationen, die sich ergeben, als Gary einer nicht überzeugt wirkenden Klientin (Adria Arjona) vom Geschäft abrät und sich in sie verliebt, führt Linklater elegant an einen absurd komischen Punkt, begleitet von hellsichtigen Reflexionen über menschliches Verhalten. Und das durchaus lehrreich. Merke: „All pie is good pie.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland