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Filmfest HamburgDie Party kann beginnen

Vor allem Filme von Frauen erweisen sich beim Filmfest Hamburg als sehenswert. Viele haben einen Realismus, in dem das Fantastische Raum bekommt.

Höhepunkt von Rosanne Pels „Donkey Days“ ist eine grandiose Familienfeier Foto: Rosanne Pel/FFHH

Am Donnerstag begann das Filmfest Hamburg. Dabei fällt auf: Drei der interessantesten in der Stadt entstandenen Spielfilme, die dort gezeigt werden, haben Frauen gedreht – einschließlich eines Films, der sich ohne Weiteres dem Action-Genre zuschreiben lässt.

„Billie“ von Sheri Hagen ist ein Thriller über eine Geiselnahme in einer Bank. Er erinnert an „Dog Day Afternoon“ mit Al Pacino, spielt aber nicht in Brooklyn, sondern in Bergedorf-West, Ortsteil Nettelnburg, und wurde dort auch gedreht. Die Heldinnen, aus deren Perspektiven erzählt wird, sind nicht nur Frauen, sondern auch Schwarz: Nina und Rubie sind Freundinnen. Rubie braucht Geld, damit ihre Tochter auf eine Klassenfahrt gehen kann. Also geht sie in eine Bank, um einen Kleinkredit zu bekommen. Nach ein paar Minuten hat sie eine Pistole in der Hand, die Polizei ist alarmiert und Nina kommt ihr zusammen mit ihrer kleinen Tochter zu Hilfe.

Außerdem arbeitet Ninas Ehemann in dieser Bank und er hat gerade entdeckt, dass seine Frau viel Geld vor ihm versteckt hat. Ja, das ist alles andere als plausibel und im Laufe des Film geht es noch weiter mit unglaublichen Zufällen und Plotwendungen, bei denen man besser nicht nach deren innerer Logik oder einer glaubwürdigen Motivation sucht. Mit seiner weitgehenden Konzentration auf die Bank als Handlungsort kann man den Film, wie es der Katalogtext tut, als Kammerspiel bezeichnen. Aber eine andere Gattungsbezeichnung aus den darstellerischen Künsten passt noch besser: „Billie“ ist absurdes Theater.

Spielerischer Umgang mit Stilmitteln

Genau daraus schöpft der Film seinen Witz und seine Radikalität: Sheri Hagen kann alles, was ihr etwa zur Situation von Schwarzen Frauen in Deutschland auf dem Herzen liegt, im Rahmen dieser surrealen Räuberpistole zur Sprache bringen. Sie inszeniert das zugleich so unterhaltsam und komplex, dass einer der besten Lacher mit Polizeieinsätzen gegen die Antifa zu tun hat und auch ein Thema wie häusliche Gewalt gegen Frauen mit viel Empathie und Zorn behandelt werden kann.

Ähnlich spielerisch wie Sheri Hagen geht auch Rosanne Pel in ihrem Film „Donkey Days“ mit den Stilmitteln und Wirklichkeitsebenen des Kinos um. Ihr Film ist zwar weitgehend in einem naturalistischen Stil mit der Handkamera aufgenommen. Die Dialoge wirken improvisiert. Aber dann zwinkert auf einmal ein Porträtgemälde an einer Wand und in einer Traumvision kriecht eine Frau durch einen Geburtskanal, einen Tunnel aus tiefrotem Stoff, zurück in den Leib ihrer Mutter.

Erzählt wird von den Konflikten der Schwestern Anna und Charlotte. Die beiden haben ihr Leben lang um die Zuneigung ihrer Mutter konkurriert. Anna ist übergewichtig und rebellisch, Charlotte entspricht dem gängigen Schönheitsideal und war immer die brave, angepasste, Lieblingstochter der Matriarchin Ines. Die residiert in einem feudalen Herrenhaus: Gedreht wurde im Gut Travenbrück zwischen Hamburg und Lübeck.

Parallelwelt voller Mythen

Zwischen den drei Frauen herrscht immer Streit, und von dieser permanenten Familienkrise wird zugleich mit einer tiefen psychologischen Einsicht und einem erfrischend boshaftem Witz erzählt. Als Höhepunkt gelingt der in Hamburg lebenden niederländischen Regisseurin eine grandiose Familienfeier, die zu einer Schlacht am kalten Buffet ausartet: Das ist so explosiv inszeniert, dass der Vergleich mit „Das Fest“ von Thomas Vinterberg nicht zu hoch gegriffen ist.

Filmfest Hamburg

bis 4. 10., Programm: filmfesthamburg.de

Claudia Tuyêt Scheffel ist in Sachsen als die Tochter einer viet­namesischen Vertragsarbeiterin und eines ostdeutschen Vaters aufgewachsen und dorthin kehrt sie für ihren Abschlussfilm der Hochschule für bildende Künste Hamburg zurück. In „Lonig und Havendel“ erzählt sie von der jungen Vietnamesin Trúc Lâm, die in ein kleines Dorf im Erzgebirge reist, um dort Deutsch zu lernen. Doch nachdem sie sich bei der Besichtigung eines Bergwerk­stollens verirrt, kommt sie „auf der anderen Seite des Berges“ in einer Parallelwelt an, in der sich Mythen der deutschen schwarzen Romantik mit der Sagenwelt von Vietnam vermischen und nebenbei auch noch ein wenig alltäglicher Rassismus gezeigt wird.

Claudia Tuyêt Scheffels Film ist voller autobiografischer Bezüge, die zum Teil eher rätselhaft bleiben. Aber neben vielen düsteren Einstellungen von Schreckgestalten im deutschen Wald gibt es auch genau beobachtete Alltagsszenen von einer vietnamesischen Familie, die einen „Asia-Imbiss“ in einem Gebirgsdorf betreibt. Claudia Tuyêt Scheffels selbst nennt den Stil ihres Films „magischen Realismus“, was vielleicht etwas plakativ ist, aber auch zu den Filmen von Rosanne Pel und Sheri Hagen passt.

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