Filmemacher über Nazi-Erbschaften: „Eine offene Wunde“
Der Filmemacher Hannes Heer erinnert sich an seinen Versuch, mit einem Film zu verstehen, wie die Nationalsozialisten im Dorf Fischerhude Fuß fassten.
taz: Wie schwierig war es, 1980 ehemalige SA-Leute zu finden, die öffentlich über ihre Vergangenheit sprachen, Herr Heer?
Hannes Heer: Da muss ich über die Entstehung des ganzen Projekts berichten. Ich bin 1975 nach Bremen gezogen und habe, als ich die Gegend dort erkundete, in der Kirche von Fischerhude ein „Totenbuch“ entdeckt. Da stehen 134 Tote aus der Kriegszeit drin, eine Menge junger Kerle, die in Russland gefallen sind und ein Mädchen, bei deren Namen stand: „in Plötzensee gestorben“.
Plötzensee, das war eine Hinrichtungsstätte der Nazis in Berlin.
Genau, da starb man nicht einfach an einer Krankheit. Ich habe mir, weil ich sofort die Idee hatte, daraus ein Hörspiel zu machen, neun Lebensläufe ausgesucht, acht von diesen jungen Männern und den des Mädchens, Cato Bontjes van Beek. 1977 habe ich dann ein halbes Jahr lang jedes Wochenende in Fischerhude verbracht und bin, eingeführt durch den Bürgermeister von Haus zu Haus gegangen.
Sie wussten damals noch nicht, dass Cato Bontjes van Beek Widerstandskämpferin gewesen war?
Nein, ich wusste gar nichts davon. Es war die absolute Gegenfamilie. Die Mutter und der Großvater malten, der Vater war ein Anarchist aus Holland und Künstler. Er ist nach Berlin gegangen und Cato ist dann zu ihm gezogen und hat dort die Kunstschule besucht. Ich habe schon bei der Arbeit am Hörspiel gemerkt, dass ich eigentlich die Geschichte meiner eigenen Familie rekonstruiere: Mein Vater kam vom Bauernhof, ich bin in einem kleinen Dorf groß geworden. Im Grunde habe ich versucht, meine Familie in diesen fremden Lebensläufen zu entdecken.
Wozu waren die Bontjes van Beeks die Gegenfamilie?
Es gab im Dorf eine Person, die der antifaschistischen Familie Bontjes van Beek diametral entgegenstand: Heinrich Peper, das war der größte Unternehmer im Dorf, der einen Holzbearbeitungsbetrieb hatte. Der hatte Anfang der 20er-Jahre die Ortsgruppe der NSDAP gegründet und dann in den 30ern als stellvertretender Gauleiter in Lüneburg Karriere gemacht. Er war daran beteiligt, dass Cato 1943 in Berlin hingerichtet wurde, weil sie Flugblätter gegen den Krieg verteilt hatte.
Hannes Heer, 78, ist Historiker, Filmemacher und Publizist. Bekannt wurde er durch seine federführende Rolle bei der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Was war konkret seine Rolle?
Er kannte die Familie. Er hat die Hinrichtung nicht initiiert, aber er hat, als Leute aus dem Dorf kamen, und ihn baten, sich für Cato einzusetzen, jede Unterstützung abgelehnt.
Wie bereit war so ein Mann nach 1945, öffentlich dazu Stellung zu nehmen?
Dieser Heinrich Peper war acht Jahre lang untergetaucht in der Lüneburger Heide und ist dann 1953 wieder nach Fischerhude zurückgekommen. Er war da eine ziemlich wichtige Person: größter Betrieb, Vorsitzender des Schützenvereins. Aber er hat sich geweigert, für den Film ein Interview zu geben.
Wie haben Sie andere frühere Nazi-Sympathisanten zum Sprechen gebracht?
Das war kein Problem. Ich war im Dorf schon bekannt, die Leute wussten, dass ich keinen denunziere, sondern etwas verstehen will. Ich habe mit einem ehemaligen SA-Mann gesprochen, mit einem früheren „Hitler-Jugend“-Führer, mit einer „Mädel“-Führerin – und mit der Mutter von Cato, die im Dorf lebte. Und auch mit Leuten, die das Geschehen aus größerer Distanz betrachteten, etwa einem SPD-Mann, der sagte: „Alle, die heute im Gemeinderat sitzen, waren früher in der NSDAP.“
Am 14. November ist der 99.Geburtstag Cato Bontjes van Beeks.
Zu diesem Anlass zeigt die Heinrich Böll-Stiftung im Bremer City-46-Kino Hannes Heers Film „Fischerhude – Ein deutsches Dorf in der Nazizeit“ und seine Dokumentation „Brûlez ces lettres – Verbrennt diese Briefe!“ über die Hilfsaktion von Catos Schwester Meme für französische Kriegsgefangene.
Anschließend gibt es ein Gespräch zwischen Hannes Heer und Stefan Krolle, der das Achimer Cato-Bontjes-van-Beek-Gymnasium samt Archiv leitet.
Man erzählt sich die eigene Geschichte so, dass man gut damit leben kann. Wie weit sind Sie hinter die Geschichten gedrungen, die sich die Menschen selbst erzählen?
Die „Bund Deutscher Mädel“- Führerin hat mir erzählt, dass sie sehr lange gebraucht hat, um sich von dieser Gedankenwelt zu befreien. Sie war wirklich eine Frau, die Demokratie dann gelebt hat, auch im Dorf. Aber sie erzählte mir, wie sie mit ihrer Gruppe nach Bremen fuhr, weil, wie es hieß, der „Führer“ dort eine Rede halten würde. Als sie anfing, ihn zu beschreiben, ist sie wieder zur BDM-Führerin geworden, mit verzückten Augen, wie in Trance. Diese beiden Personen tauchten gleichzeitig auf – und auf diese Ebene bin ich eigentlich immer gekommen.
Gab es für Sie etwas Überraschendes in diesen Gesprächen?
Bei den kleinen Leuten, den Knechten und Pachtbauern, war es überraschend, wie übereinstimmend und einleuchtend sie ihre Anhängerschaft an die Nazis gedeutet haben: Das war ein Leben in einem Dorf, das überwiegend deutschnational wählte, Leben in einem dumpfen Alltag, wo es keine Alternativen gab, keine Chancen, etwas Neues zu lernen. Kein Platz, wo man Jugend leben konnte. Und dann kommt so eine Partei und sagt: Wir gründen eine Hitlerjugend, wir machen Geländespiele, es gibt Sportschießen, Treffen mit anderen HJ-Gruppen und auf einmal gibt es da Leben und Aktivitäten, man kann sich zeigen, man kann sich bewähren.
Was bedeutete es für die Mutter von Cato Bontjes van Beek in einem Dorf mit Heinrich Peper zu leben?
Sie haben Luftlinie 300 Meter entfernt gewohnt und Peper habe sie immer, so erzählte sie es mir, zu einer Autotour durchs Dorf eingeladen. Die Absicht war klar: Er wollte demonstrieren, dass sie ihm verziehen hatte. Sie hat sich kompromisslos gezeigt. Bei ihrem Gespräch wegen des Gnadengesuchs 1943 hatte er zu ihr gesagt: „Frau Bontjes, stellen Sie sich vor, ein ganzes Leben lang in der Haftanstalt in Berlin zu sitzen, das ist doch furchtbar.“ Da ist sie ihm ins Wort gefallen und hat gesagt: „Der Krieg ist verloren, das weiß doch jeder.“ Da hat er sie drohend darauf hingewiesen, dass er sie, wenn sie noch einmal so einen Satz sagt, auch verhaften muss.
Es klingt so, als sei ihr Schmerz über die Jahre hinweg unverändert geblieben.
Das ist völlig frisch gewesen, mit solch einer tiefen Trauer und Empörung, auch Wut, wie mir das selten begegnet ist. Die Stimme, wie sie dann schweigt und nur noch auf die Sessellehne haut. Sie las in der Zeitung über seine Aktivitäten im Schützenverein, seine Frau war Vorsitzende des Frauenturnvereins. Sie erinnerte an die Verbrechen des Faschismus, und der Rest des Dorfes musste sich für sie oder für Peper entscheiden.
Wie sah das praktisch aus?
Wenn man an den Schützenfesten nicht teilnahm und sein Leben als Künstler fortsetzte, dann gab es einen Kreis von Gleichgesinnten, die es möglich machten, dass man ungestört weiterleben konnte. Aber das wurde schwieriger, als ich den Film gemacht und ihn auch im Dorf gezeigt habe. Da lag alles offen auf dem Tisch. Es gab eine Spaltung im Dorf und ich glaube, dass das für Frau Bontjes van Beek eine große Stärkung war: jetzt musste sich jeder entscheiden.
Wo war die Mehrheit?
Ich würde sagen, zwei Drittel hat eine kritische Haltung eingenommen und ein Drittel hat am Alten festgehalten. Da ist im Dorf einiges in Bewegung gekommen. Bei den nächsten Gemeinderatswahlen tauchten plötzlich die Grünen auf. In den 80er-Jahren entstand die Bewegung „Geschichte von unten“. Es gab jetzt an vielen Orten die „Geschichtswerkstätten“ – aber das konnte das jahrzehntelange Schweigen der Gesellschaft in der Nachkriegszeit nicht wiedergutmachen. Die Nazis, die wir heute haben, sind eine Folge davon, und diese Nazi-Erbschaften bleiben eine offene Wunde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft