Filmbiografie „One Life“ im Kino: Held im Stillen
Die Filmbiografie „One Life“ erzählt von Nicholas Winton, der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg Kinder aus der Tschechoslowakei retten ließ.
Immer wieder macht er seine Runde in den sozialen Medien: Ein kleiner Ausschnitt aus einer britischen Talkshow, aufgezeichnet in den späten Achtzigern. Ein alter Herr mit großer Brille sitzt in der ersten Reihe des Publikums. Es scheint, als wüsste er nicht genau, was ihn in den nächsten Augenblicken erwartet, als die Moderatorin ihn direkt adressiert. Sie bittet schließlich all jene Zuschauer, die ihr Leben diesem Mann, Nicholas Winton, zu verdanken haben, aufzustehen. Es erhebt sich der gesamte Saal.
„One Life“. Regie: James Hames. Mit Anthony Hopkins, Helena Bonham Carter u. a. Vereinigtes Königreich 2023, 113 Min.
Als sich Nicholas Winton umdreht, den Menschen um ihn herum sichtbar bewegt zunickt und sich unter die Brille fasst, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen, fühlt man sich auch jetzt noch, als Zuschauer, dem der kurze Clip gerade auf Twitter, Facebook oder Tiktok begegnet ist, ergriffen. Wenngleich sich in diese Ergriffenheit unweigerlich das flaue Gefühl mischt, dass die Geschichte hinter dem, was Nicholas Winton vollbrachte, eine zu bedeutsame ist, als dass sie weder damals für einen aufmerksamkeitsheischenden Medienstunt noch heute für das schnelle Generieren von Klicks, „Likes“ und Kommentaren herhalten sollte.
Mit etwas Glück erfährt man aus der Beschreibung eines der viralen Videos gerade noch, dass Nicholas Winton zwischen 1938 und 1939 mehrere Transporte organisierte, die 669 Kinder, meist aus jüdischen Familien, mit dem Zug aus Prag nach Großbritannien brachten, ehe Hitlers Truppen in Polen einmarschierten und der Zweite Weltkrieg begann. Wie ihm das gelang, wer er überhaupt war und wer außer ihm an den Rettungsaktionen beteiligt gewesen ist, hat sich zumindest außerhalb des Vereinigten Königreichs noch nicht recht in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben.
Dass „One Life“ an diesem Umstand ganz entschieden etwas ändern möchte, darauf deutet bereits der Titel dieser Filmbiografie hin. Der Spruch aus dem Talmud, „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, auf den hier angespielt wird, wurde bereits durch „Schindlers Liste“ über den religiösen Kontext hinaus bekannt. Regisseur James Hawes will mit seinem Kinodebüt nun Nicholas Winton, der in seiner Heimat bereits den Beinamen „Der britische Schindler“ besitzt, so scheint es, ein ähnliches Andenken bereiten, wie es Oskar Schindler seinerzeit durch das Kino zuteilwurde. Dazu wählt der britische Filmemacher mitunter sogar ähnliche Motive wie einst Steven Spielberg.
Das ikonische Mädchen
So etwa im Erzählen von Nicholas Wintons (Johnny Flynn) Reisen ins noch unbesetzte Prag, wohin Zehntausende nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei geflohen sind, an die er sich als beinahe 80-Jähriger erinnert (dann gespielt von Anthony Hopkins), kurz bevor seine Taten der Öffentlichkeit bekannt werden. Wenn sich der junge Brite seinen Weg durch die behelfsmäßigen Flüchtlingsunterkünfte, ihren Schmutz und das Leid bahnt, folgt die Kamera immer wieder einem kleinen Mädchen, das mit einem Baby auf dem Arm durch das Lager irrt.
Ähnlich wie das ikonische Mädchen im roten Mantel in „Schindlers Liste“, suggeriert auch „One Life“, dass es ihr Anblick ist, der den Protagonisten letztlich zum Entschluss bewegt, helfen zu wollen, helfen zu müssen.
Berichtet „One Life“ von den Hürden, denen sich Nicholas Winton nach diesem Entschluss ausgesetzt sieht, vertraut der Film auf altbekannte Formeln vergleichbarer Historiendramen, die sich den heroischen Taten von Einzelnen widmen. Da die britische Regierung zwar durchaus staatliche Kindertransporte aus Deutschland und Österreich organisiert, nicht aber aus der Tschechoslowakei, möchte Winton zusammen mit den Freiwilligen vor Ort selbst eine Rettungsaktion auf die Beine stellen.
In schnell geschnittenen Montagen ist er mal beim eifrigen Pläneschmieden mit Vertretern eines britischen Hilfskomitees vor Ort (Alex Sharp und Romola Garai) zu sehen, mal in gehetzten Telefonaten mit seiner couragierten Mutter Babette (Helena Bonham Carter), die die Behörden in London von der Notwendigkeit überzeugen soll, den Kindern ein britisches Visum auszustellen.
Die tödliche Ignoranz bürokratischer Strukturen
James Hawes gelingt es so zwar durchaus, sowohl das enorme Engagement der Menschen um Nicholas Winton als auch die bisweilen tödliche Ignoranz bürokratischer Strukturen eindrücklich darzustellen. Eine Einreiseerlaubnis erhielten die Kinder schließlich nur dann, wenn sich zuvor britische Paten fanden, die für alle entstehenden Kosten während des Asyls aufkommen und darüber hinaus im Vorfeld eine Gebühr von 50 Pfund (was heute fast 10.000 Euro entspricht) entrichten würden.
Und auch die TV-Sequenz, durch die die Taten Nicholas Wintons eine späte Anerkennung fanden, ist selbst in der nachgespielten Fassung überaus berührend. Nicht zuletzt wegen der Würde, die Anthony Hopkins’ bedächtiges Spiel einem Mann verleiht, der sich bis ins hohe Alter mit dem Gedanken quälte, nicht noch mehr Kindern das Leben gerettet zu haben.
Indem Nicholas Wintons Geschichte in altbekannte Erzählmuster gepresst wird, entlässt „One Life“ einen allerdings mit einem ähnlichen Gefühl des „Nicht-gerecht-Werdens“, wie es besagte virale Videos tun. Durch den konventionellen Ansatz, den James Hawes wählt, geht es auch hier zuerst um das mediale Moment. Erst dann um die individuelle Person, um Nicholas Winton selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört