Film über Odenwaldschule: Pädagogischer Eros im Bademantel
Der ARD-Film „Die Auserwählten“ zeigt den Missbrauch an der Odenwaldschule wohl zu konkret. Zwei Ex-Schüler wollten die Ausstrahlung verhindern.
Wiesen im Sonnenlicht, auf denen Kinder herumtollen. Im Hintergrund schmiegen sich spitzgieblige Internatsgebäude in den Wald. Und mittendrin, die Wangen gerötet vom intensiven Spiel mit den Kindern, der Schulleiter. Nähe zum Kind, das gelebte Versprechen der Reformpädagogik: Dies ist der erste Eindruck, den die junge Biologielehrerin Petra Grust (Julia Jentsch) von ihrem neuen Einsatzort hat.
Die Odenwaldschule der ausgehenden siebziger Jahre ist eine pädagogische Idylle – und die letzte Chance für Menschen wie Petra, die wegen Kiffens auf Klassenfahrt aus dem staatlichen Schuldienst geflogen war. Den Job bekommt sie nur, weil ihr Vater, ein Staatssekretär, mit dem Schulleiter Simon Pistorius (Ulrich Tukur) befreundet ist.
Dass sich diese Szene schon in der ersten Viertelstunde von Christoph Röhls Film über die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule ereignet, ist ein großes Glück. Schnell wird klar, dass „Die Auserwählten“ nicht eine dieser Schmonzetten ist, die zeitgeschichtliche Ereignisse zur seifigen Unterhaltungsstory zusammenrühren.
Vielmehr haben die Produzenten des Films den realen Stoff – die systematische sexuelle Gewalt an mindestens 132 Schülern und Schülerinnen des reformpädagogischen Internats über zwei Jahrzehnte hinweg – ernst genommen. Und ihn einem Fachmann anvertraut: Christoph Röhl, der Englisch-Tutor an der Odenwaldschule war und damals wie viele „nichts gemerkt hat“ von den serienmäßigen Übergriffen einiger Lehrer auf Schüler, drehte bereits einen Dokumentarfilm über die OSO, wie das Internat im Wald sich selbst nennt. Diese Kenntnisse über Mechanismen des sexuellen Missbrauchs merkt man auch seinem Spielfilm an.
Von Abhängigkeiten zusammengehalten
„Die Auserwählten“ erzählt die Odenwaldschule wahrheitsgetreu als ein geschlossenes System, eine Gemeinschaft, die von Abhängigkeiten zusammengehalten wird. In diesem nach außen hin lockeren sozialen Gefüge – Schüler duzen ihre Lehrer, man duscht, kocht, kifft und trinkt zusammen – herrscht im Inneren doch nur einer: Simon Pistorius, der charismatische Stern am Himmel der Reformpädagogik, der verspricht, Schule „neu zu denken“.
Die Eltern vertrauen ihm ihre Kinder an, das Kollegium folgt ihm blind. Und nachdem er vor versammelter Schulgemeinschaft vom „pädagogischen Eros“ gesprochen hat, vergewaltigt er Schüler wie Frank unter der Dusche. Oder im Bett. Oder dort, wo sich die Gelegenheit gerade bietet. Die Figur Pistorius zeichnet dabei ziemlich genau den realen langjährigen Schulleiter der Odenwaldschule und Haupttäter im Missbrauchsskandal Gerold Becker nach, der 2010 starb – ohne je für seine Taten belangt worden zu sein.
„Die Auserwählten“, Mi., 20.15 Uhr, ARD
Petra merkt, wie verstört Frank ist. Sie sieht Pistorius mit dem Jungen unter der Dusche. Und beginnt zu begreifen, dass der Kuschelpädagoge auch seine verborgene, seine triebhafte und gewalttätige Seite ungehindert auslebt. Als sie auch den Musiklehrer inflagranti nackt mit einem sehr jungen Schüler im Campingbus erwischt, beschließt sie, das Ungeheuerliche öffentlich zu machen.
Doch niemand glaubt ihr, weder der Vater von Frank, der auf „den Simon“ große Stücke hält, noch das Kollegium. Das System OSO bleibt intakt. Und der Missbrauch geht weiter. So lange, bis sich die gequälten Kinder endlich offenbaren – und auch Petra noch einmal die Chance bekommt, ihren Teil zur Aufklärung beizutragen.
So konkret, dass es beklemmend ist
Der Film ist beklemmend – auch weil er konkret wird, wo andere Produktionen sich mit dräuender Musik begnügt hätten. Man mag kaum hinsehen, wenn sich der Schulleiter, den Ulrich Tukur großartig als widerwärtigen Charmebolzen verkörpert, befriedigt in seinen Bademantel hüllt. Während sein Opfer, hinreißend gespielt von dem erst 18-jährigen Leon Seidel, apathisch unter der Dusche kauert.
Zwei ehemaligen Schülern der OSO ist der Film zu konkret. Einer der beiden meint, die Figur des Frank zeige seine eigene Geschichte. Er sieht mit der Produktion seine Persönlichkeitsrechte verletzt und wollte die Ausstrahlung stoppen lassen. Die Hausjuristen des WDR finden die Vorwürfe nicht zutreffend. Der Film soll wie geplant am Mittwoch Abend ausgestrahlt werden. Der Anwalt des Schülers will den Sender nun auf Entschädigung verklagen.
Dass der Film am Originalschauplatz im hessischen Oberhambach gedreht werden konnte, macht das Grauen der Handlung noch fassbarer: Die Häuser im Wald wirken bei Sonnenschein märchenhaft und im Dunklen wie Spukschlösser – eine Metaphorik, die inszenatorisch manchmal etwas überstrapaziert wird. Zum Glück hat das großzügige Erteilen der Drehgenehmigung bei den Filmemachern offenbar keine Beißhemmung gegen die Institution OSO erzeugt: Trägerverein und Schulleitung kommen bei ihrem Umgang mit dem Leid der Altschüler gar nicht gut weg. Und das entspricht leider der Realität einer abgehalfterten Institution, die sich mit der Aufarbeitung noch immer schwer tut.
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