Film „Living“ von Kazuo Ishiguro: „Eine multiple kulturelle Aneignung“
Der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat für den Film „Living“ das Drehbuch geschrieben. Ein Gespräch über den Gentleman in uns und Angst vor Gefühlen.
![Ein Herr im Anzug sitzt an einem Cafeehaustisch und wird von einer Kellnerin mit Schürze und weißer Haube bedient Ein Herr im Anzug sitzt an einem Cafeehaustisch und wird von einer Kellnerin mit Schürze und weißer Haube bedient](https://taz.de/picture/6256930/14/5-1.jpeg)
Durch das Hotelfenster in San Sebastián dringen während des Filmfestivals Hitze und Geräusche eines quirligen Strandnachmittags, als der japanisch-britische Schriftsteller Kazuo Ishiguro, akkurat im Anzug mit Hemd und Krawatte, die Suite betritt und sich gleich freundlich lächelnd nach dem Wohlbefinden erkundigt. Ein Gentleman durch und durch, höflich und distinguiert. Ein solcher steht auch im Mittelpunkt des Spielfilmdramas „Living“, zu dem der 68-jährige Nobelpreisträger eines seiner raren Drehbücher verfasst hat. Das Remake des Kurosawa-Klassikers „Iriku“ handelt von einem Beamten im London der frühen 1950er Jahre, der die wenige Zeit nutzt, die ihm noch bleibt, um Sinnhaftes zu tun. Ein Gespräch über englische Eigenheiten, die Liebe zum Kino und Erfüllung im Leben.
wochentaz: Herr Ishiguro, was hat Sie bewogen, ein Drehbuch zu einem Remake schreiben?
Kazuo Ishiguro: Ich kam als Fünfjähriger 1960 mit meinen Eltern nach England. Kurosawa und Ozu waren lange die einzigen japanischen Regisseure, deren Filme regelmäßig im Kino zu sehen waren. Sie waren das Fenster in meine Kindheit in Japan. „Ikiru“ hinterließ später auf mich als junger Mann einen besonderen Eindruck. Er zeigte mir, wie ich mein Leben als Erwachsener führen sollte, das mir so klein und unbedeutend erschien. „Ikiru“ tut nicht so, wie so viele andere Filme, dass man Spektakuläres schafft und dadurch berühmt wird. Es geht darum zu akzeptieren, wer man ist, und seinen Platz in der Welt zu finden. Und sich zu bemühen, ein bisschen über sich selbst hinauszuwachsen, ein erfülltes Leben zu führen. Das Beste aus dem zu machen, was einem gegeben ist. Mich beflügelte das sehr. Und irgendwann fing ich an darüber nachzudenken, wie ein in Großbritannien angesiedeltes Remake für eine neue Generation funktionieren würde.
Warum?
Der Schriftsteller Kazuo Ishiguro wurde 1954 in Nagasaki geboren. Er zog 1960 mit seiner Familie in das Vereinigte Königreich. Er studierte Englisch, Philosophie und Kreatives Schreiben. Sein Roman „Was vom Tage übrigblieb“ (1989) wurde mit dem Booker Prize ausgezeichnet und verfilmt, ebenso wie „Alles, was wir geben mussten“ (2005). Ishiguro erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur.
Wer sind wir? Was ist unser Verhältnis zur Welt als Ganzes, zur Gesellschaft? Wie führen wir ein erfülltes Leben? Viele dieser Fragen stellen wir uns, indem wir Romane lesen und Filme schauen, in andere Leben eintauchen. Das versuchen wir mit „Living“, ohne sentimental zu werden und damit das Publikum zu manipulieren. Der Film tut nicht so, als würde man die Welt verändern und dafür gefeiert werden, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Das wäre gelogen. Er erzählt davon, wie man im Kleinen Gutes tun und dadurch Erfüllung finden kann, selbst wenn sich später niemand an einen erinnert. Kein Astronautenmärchen, sondern die Geschichte eines Alltagshelden.
Hatten Sie keine Berührungsängste in Bezug auf Kurosawa?
Seine Filme wurden ja auch mehrfach von westlichen Regisseuren adaptiert, von „Die glorreichen Sieben“ bis „Star Wars“. Und Kurosawa selbst nutzte unverblümt literarische Vorlagen: Shakespeare, Dostojewski, Gorki, ganz ohne falsche Ehrfurcht. Und um ehrlich zu sein: „Ikiru“ ist nur fast ein Meisterwerk. Das Drehbuch war großartig, aber Kurosawa inszenierte es sehr actionreich, die Schauspieler sind melodramatisch. Ich hätte mir den Protagonisten stoischer gewünscht. Ich wollte auch kein reines Remake machen, sondern „Ikiru“ mit anderen Themen verschmelzen, etwa dieser sehr spezifischen Englishness. So kam ich auf Bill Nighy. Er verkörpert diesen Archetyp des britischen Gentleman.
Was verstehen Sie darunter?
Mr Williams, der Protagonist in „Living“, ist eine Art von Gentleman, wie ich ihn aus meiner Kindheit kenne. Viele Eltern meiner Freunde und viele Freunde meiner Eltern waren ihm sehr ähnlich. Sie hatten etwas Uniformes, nicht nur in der Kleidung, sondern in ihrem ganzen starren Verhalten. Mich faszinierte dieser Typus, doch er verschwand in den folgenden Jahren zusehends. In „Living“ nutze ich ihn als Metapher, um etwas Allgemeingültigeres über die menschliche Natur zu erzählen. Ich glaube, in jedem von uns steckt ein solcher englischer Gentleman, es ist eine überhöhte Version dessen, was uns als soziale Wesen ausmacht.
Was meinen Sie damit?
Die Angst vor Gefühlen und sie öffentlich zu zeigen. Das Pflichtbewusstsein, dem man nie ganz gerecht werden kann. Der Hang zum Konformismus. Teil einer sozialen Hierarchie zu sein, aus der man nur schwer ausbrechen kann. All das ist in „Living“ sehr orts- und zeitspezifisch auf die Spitze getrieben, aber wir sind doch alle davon geprägt. Wir identifizieren uns damit, weil wir instinktiv spüren, dass die Prinzipien dieser merkwürdigen Welt englischer Bürokraten vor 70 Jahren noch immer etwas mit uns zu tun haben.
Inszeniert hat den Film der Südafrikaner Oliver Hermanus. Weil auch er mit Distanz auf diese Welt blickt?
![Ein Mann im schwarze Anzug steht vor einer Glasscheibe und tippt mit seinem Finger an den Bolwer, einen typisch englischen, runden Hut Ein Mann im schwarze Anzug steht vor einer Glasscheibe und tippt mit seinem Finger an den Bolwer, einen typisch englischen, runden Hut](https://taz.de/picture/6256930/14/2-2.jpeg)
Ich wollte bewusst keinen Regisseur aus Großbritannien. Es sollte nicht aussehen wie so viele andere britische Historiendramen, es sollte ein frischer Blick von außen sein. Oliver ist 1983 in Kapstadt geboren und PoC. Ich selbst bin japanisch-britischer Schriftsteller. Aber bereits das Originaldrehbuch zu „Ikiru“ stammt von drei japanischen Autoren einer anderen Generation. Und sie ließen sich dabei wiederum von der russischen Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ von Leo Tolstoi inspirieren. Es ist also eine multiple kulturelle Aneignung.
Welche Bedeutung hat das Kino für Sie?
Ich bin ein Cinephiler, ich rede liebend gern über Filme, sie sind ein wichtiger Impuls für mich als Schriftsteller. Meine Romane würden nicht in der Form existieren ohne meine Liebe zum Kino. Mich interessieren Geschichten, die universell und allgemeingültig sind. Für mich ist die große Kraft der Fiktion, dass wir nicht nur die Fakten an der Oberfläche betrachten, wir versuchen, eine metaphorische Ebene zu finden. Filme können etwas über uns und unsere Gesellschaft aussagen, auch wenn es ein Historiendrama oder Science-Fiction ist.
Inwiefern unterscheidet sich für Sie das Schreiben eines Drehbuchs von dem eines Romans?
Ich bin immer noch dabei, das herauszufinden. Über 40 Jahre lang habe ich Romane geschrieben. Ich bin Schriftsteller, kein Drehbuchautor. Nur hin und wieder lasse ich mich überreden, ein Script zu schreiben, und ich bin meist nicht sehr gut darin. Etliche davon wurden nie verfilmt, andere leider schon. Diesmal scheint sich zum Glück alles gefügt zu haben. Ich scheine langsam zu verstehen, worauf es ankommt. Innere Monologe und Rückblenden zum Beispiel funktionieren in der Literatur besser.
Wie stehen Sie zu den Verfilmungen Ihrer eigenen Romane wie „Was vom Tage übrig blieb“?
Ich versuche sie als regulärer Kinobesucher zu sehen, aber es fällt mir sehr schwer. Meine Einwände sind oft komplett unfair. Ich rege mich über eine Szene auf, weil ich denke, die Tür ist auf der falschen Seite. Weil ich es beim Schreiben anders vor Augen hatte. Ich versuche, den Film mit neuen Augen zu sehen, als hätte ich nicht das Buch geschrieben. Mehr noch: als hätte ich es nicht gelesen.
Sie haben bislang nie einen Ihrer eigenen Romane adaptiert. Warum?
Weil es nicht sonderlich interessant ist für mich. Das sind Stoffe, die ich bereits bearbeitet habe, für mich ist die Auseinandersetzung damit beendet. Die Vorstellung, sich noch mal an die Arbeit zu machen, nur diesmal mit Studioleuten im Nacken, die mir sagen, was ich ändern soll, erscheint mir wie ein Albtraum. Ich überlasse das gerne anderen. Auch weil ein frischer Zugang guttut. Eine Adaption ist etwas Eigenständiges, man muss da mitunter gnadenlos sein im Ändern und Streichen.
Sie reden dann auch nicht rein?
Ich ermutige Autor und Regisseur, sich den Stoff anzueignen. Die einzige wichtige Frage am Ende ist, ob der Film etwas taugt, ob er das Publikum berührt. Da steht eine zu orthodoxe Werktreue oft nur im Weg. Und wie gewinnbringend ist es letztlich, Buch und Film zu vergleichen? Was ist „besser“? Ist das eine Frage, die das Kinopublikum umtreibt? Ich bezweifle das.
Im Jahr 2017 erhielten Sie den Literaturnobelpreis. Wie hat die Auszeichnung Ihr Leben verändert?
Angesichts meiner Botschaft der Bescheidenheit in „Living“ eine gewisse Ironie, oder? Es war eine große Ehre, aber ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich war 62, als ich ausgezeichnet wurde. Ein bisschen früh für den Ruhestand. Just carry on! So werde ich das auch weiter handhaben.
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