Femizid in Griechenland: Mord mit der Polizei am Telefon
Eine junge Frau rief in Griechenland vor einer Dienststelle die Polizei an und bat um Schutz. Sie wurde abgewimmelt – und Minuten später erstochen.
Sie tut das. Der diensthabende Polizist hebt den Hörer ab. Das Gespräch wird gut eine Minute dauern, bis Kyriaki Griva von ihrem heraneilenden Ex-Freund brutal niedergestochen wird. Die Aufnahme wird einem privaten Athener Fernsehsender zugespielt. Ganz Griechenland hört zu, als es längst zu spät ist.
„Ich stehe vor der Polizeistation. Ich brauche jemanden, der mich nach Hause bringt“, sagt anfangs Kyriaki Griva mit fester Stimme. Vor ihrer Wohnung warte ihr Ex-Partner, erklärt sie. „Er hat viele psychologische Probleme. Ich habe Angst davor, alleine nach Hause zu gehen.“ Trocken erwidert der Mann in der Notrufzentrale: „Der Streifenwagen ist kein Taxi. Wenn sie mögen, schicke ich ihnen ein Polizeiauto nach Hause.“ Er sagt das, obgleich direkt neben Kyriaki Griva ein Streifenwagen geparkt ist, wie veröffentlichte Bilder einer Überwachungskamera belegen.
Sie stimmt zu. „Wann wird das Polizeiauto da sein?“, fragt sie. „Das weiß ich nicht“, lautet die lapidare Antwort. Griva hakt nach: „Was soll ich tun? Hier bleiben oder langsam nach Hause gehen?“ Nun fragt der Polizist aus der Notrufzentrale, während die junge Frau weiter vor der Polizeistation unweit ihrer Wohnung steht. „Haben Sie ihn (den Ex-Freund) angezeigt?“ Griva verneint. „Warum wartet er dann auf Sie?“, will er weiter wissen. Griva ohne Umschweife: „Er wartet, um sich an mir zu rächen. Um mich zu schlagen. Das hat er schon gestern versucht.“
81. Femizid in Griechenland seit 2020
Der Polizist in der fernen Notrufzentrale fängt an, das Hilfegesuch der jungen Frau langsam in den Computer einzutippen. Dabei liest er den Text vor. „Wie heißen Sie?“ „Kyriaki Griva.“ „Also, ihr Ex-Partner wartet vor ihrer Wohnung, um Gewalt auszuüben. Richtig?“ „Ja.“ „Wann werden Sie ihre Wohnung erreichen? Wollen Sie, dass ich das notiere?“ Griva: „Ich wohne in der Nähe (sie nennt die Adresse). In zwei Minuten bin ich dort.“
Doch dazu kommt es nicht. Sie ruft: „Ah, er ist hierhergekommen!“ Der Polizist aus der Notrufzentrale ist verdutzt: „Der Ex?“ Griva prompt: „Ja, er ist hier!“ „Soll ich den Streifenwagen zur Polizeistation schicken?“ „Ja…!“ Das ist ihr letztes Wort. Ihr Handy fällt auf den Boden. Kyriaki Griva schreit. Es ist ihr Todesschrei. Grivas Ex-Partner, 39 Jahre, tötet sie mit fünf Messerstichen in ihren Oberkörper. Ein Augenzeuge brüllt: „Er hat sie getötet! Er hat sie getötet!“
Der Mord an Kyriaki Griva am Abend des 1. April ist der 81. Femizid in Griechenland seit Anfang 2020 – Tendenz steigend. Der Aufschrei in Hellas ist groß. Noch nie hat sich hierzulande ein Frauenmord direkt vor einer Polizeistation ereignet, mitten in der griechischen Hauptstadt, ohne dass die Polizei eingreift.
Die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis wirkt wie gelähmt. Schon seit dem 8. Juli 2019 ist sie im Amt. Eines ihrer großen Versprechen war, sie werde – ganz im Gegensatz zur linken Vorgängerregierung unter Ex-Premier Alexis Tsipras -, fortan für „Recht und Ordnung“ sorgen. Ein Klassiker unter den Vorhaben rechter Regierungen.
Leere Worte. Ob die zu Füßen der Akropolis ausufernde Fangewalt, wiederholte wilde Schießereien unter Mitgliedern der sogenannten „Greek Mafia“ mit Todesfolge oder die sich mittlerweile erschreckend häufenden Frauenmorde: Mitsotakis und Co. stehen vor einem Scherbenhaufen.
Der Premier hält an seinem Minister fest
Von Anfang 2020 bis Ende 2023 wurden landesweit genau 37.312 Fälle häuslicher Gewalt amtlich registriert. Die Dunkelziffer sei hoch, so Experten. Das Gros der Opfer sind Frauen. Tendenz auch hier: steigend. In den ersten zwei Monaten dieses Jahres kamen 1.808 neue Fälle hinzu. Grivas Ex-Freund soll der Polizei seit 2020 bekannt gewesen sein, weil er sie schlug. Den Femizid verhinderten die Ordnungshüter nicht. Der Täter wurde verhaftet. Sechs Tage nach dem Mord versuchte er sich im Gefängnis umzubringen. Er liegt derzeit in einem Athener Krankenhaus.
Fest steht: Griechenland hat gemessen an seiner Bevölkerungszahl mehr Polizisten als in fast allen anderen EU-Staaten. Konkret zählt Hellas gut 500 Polizisten pro 100.000 Einwohner. In der EU bedeutet dies Platz zwei. Nur Zypern hat etwas mehr. Zum Vergleich: Deutschland verfügt über rund 300 Polizisten pro 100.000 Einwohner und liegt damit etwas unter dem EU-Durchschnitt.
Die Griechen fühlen sich im eigenen Land nicht sicher. Der Frust steigt. Laut einer jüngst veröffentlichten Umfrage des Athener Meinungsforschungsinstituts Public Issue gaben fulminante 76 Prozent der Befragten an, die hiesige Situation in Sachen Kriminalität habe sich in den letzten zwölf Monaten verschlechtert. Nur fünf Prozent der Hellenen gaben an, die Lage habe sich verbessert.
Unbeirrt hält Premier Mitsotakis an Michalis Chrysochoidis, dem Minister für Bürgerschutz, fest. Er ist seit der Wiederwahl der Regierung Mitsotakis im Juni vorigen Jahres bereits der dritte Minister auf diesem Posten. Dafür wurden flugs der unsägliche Polizist in der Notrufzentrale sowie vier seiner Kollegen der Polizeistation, vor der die glücklose Kyriaki Griva ums Leben kam, versetzt. Darunter ist auch ein Polizist, der am Abend des 1. April Wache schob. Auch er griff nicht ein.
Dass griechischen Medien zufolge ausgerechnet dieser Wächter wegen Verbindungen zur Organisierten Kriminalität rechtskräftig verurteilt worden und vor seiner Entlassung aus dem Polizeiapparat gestanden sei, sorgt für zusätzliche Irritationen. Er will aus seinem Wachhäuschen keine gute Sicht auf das Opfer Griva gehabt haben, soll er seine fatale Untätigkeit bei dem unglaublichen Vorfall begründet haben.
Aufgeschreckt durch den jüngsten Frauenmord versichert Premier Mitsotakis derweil trotzig: „Die Polizeiautos sollen zu Taxis und Rettungswagen für die Bürger werden.“ Das glaubt ihm in Griechenland kaum einer, geschweige denn die Frauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?