Femizid in Berlin: „Im schlimmsten Fall Tötung“
Am Freitag beginnt der Prozess gegen zwei Afghanen, die ihre Schwester getötet haben sollen. Petra Koch-Knöbel sieht Parallelen zum Fall Sürücü.
taz: Frau Koch-Knöbel, ab kommenden Freitag stehen zwei afghanische Brüder vor Gericht. Sie sollen ihre Schwester ermordet haben. Die 34-jährige Maryam H. hatte mit ihren beiden Kindern in einem Berliner Flüchtlingsheim gelebt. Woran erinnert Sie dieser Fall?
Petra Koch-Knöbel: Es gibt ungemeine Parallelen zum Fall Hatun Sürücü.
Petra Koch-Knöbel
63, ist Gleichstellungsbeauftragte in Friedrichshain-Kreuzberg und Vorsitzende des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung.
Es geschah am 7. Februar 2005: Die 23-jährige Hatun Sürücü wurde im Bezirk in Tempelhof von einem ihrer Brüder erschossen, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte.
Nach allem, was bisher bekannt ist, war das bei der Afghanin Maryam H. auch so. Sie hatte sich scheiden lassen, das Kopftuch abgelegt und ein eigenständiges Leben in westlichem Stil geführt. Wie Hatun soll sie zu ihren Brüdern ein besonderes Verhältnis gehabt haben. Auch Hatun hatte bis zum Schluss nicht glauben wollen, dass ihre Eltern und Brüder so weit gehen würden, ihr etwas anzutun.
Nach dem Tod von Hatun Sürücü waren drei ihrer Brüder wegen Mordes angeklagt, verurteilt wurde letztendlich aber nur der Jüngste, ein 19-Jähriger.
Für mich ist vollkommen klar, dass das in der Familie geplant worden war. Wenn sich eine Frau nicht entsprechend den Strukturen und Traditionen verhält, gilt das in archaisch-patriarchalen Familien als Ehrverlust. Im schlimmsten Fall, wie bei Hatun Sürücü und mutmaßlich auch bei Maryam H., kommt es zur Tötung. Zu einem Femizid, wobei der Begriff Ehrenmord in Fällen wie diesen zutreffender wäre.
Wo sehen Sie den Unterschied?
Wir sprechen von Femizid, wenn die Tötung oder Ermordung aufgrund des Geschlechts erfolgt. Frauen sind da überwiegend betroffen. Ehrenmord beinhaltet die zusätzliche Komponente, dass eine Person getötet wurde, weil sie gegen archaisch patriarchal geprägte Familienstrukturen verstoßen hat.
Die Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü wuchs mit fünf Brüdern und drei Schwestern in Kreuzberg auf. Nachdem sie sich immer mehr gegen ihre Familie aufgelehnt hatte, meldete ihr Vater sie nach der 8. Klasse im Gymnasium ab. Im Alter von 16 Jahren wurde sie mit ihrem Cousin Ismail in Istanbul zwangsverheiratet, von ihm wurde sie dann auch schwanger. Nach einem Streit mit ihm und seiner strenggläubigen Familie kehrte sie alleine nach Berlin zurück, wo sie ihren Sohn gebar. Im Oktober 1999 zog Sürücü aus der Wohnung ihrer Eltern in Kreuzberg aus, legte ihr Kopftuch ab und fand in einem Wohnheim für minderjährige Mütter Zuflucht. Dort holte sie ihren Hauptschulabschluss nach. Später bezog sie eine eigene Wohnung in Tempelhof und begann eine Lehre als Elektroinstallateurin.
Am Abend des 7. Februar 2005, wenige Tage vor dem Abschluss ihrer Gesellenprüfung, besuchte sie ihr jüngster Bruder in ihrer Wohnung. Es kam zum Streit, dennoch begleitete sie ihn zur Bushaltestelle. Dort tötete er sie mit drei Kopfschüssen. 2006 sprach das Landgericht die zwei mitangeklagten älteren Brüder frei. (taz)
Wie stehen Sie zu der Auffassung, der Begriff Ehrenmord sei beschönigend, weil er eine Rechtfertigung der Tat beinhalte?
Ich kann diese Bedenken gut nachvollziehen. Es gibt aber auch junge Männer, die – etwa weil sie homosexuell sind – von der Familie getötet werden. Da muss man differenzieren zwischen Femizid und Ehrenmord.
Seit 2019 lebte Maryam H. in einer Flüchtlingsunterkunft in Alt-Hohenschönhausen. Die beiden nunmehr angeklagten Brüder sollen in ihrem Zimmer ein und aus gegangen sein. Ist bekannt, ob sich die Frau hilfesuchend an die Behörden gewandt hat?
Bei Hatun Sürücü wissen wir, dass sie vom Jugendamt in Friedrichshain-Kreuzberg unterstützt wurde. Die Familie war bekannt. Bei Maryam H. weiß ich das nicht. Ich kenne auch die Einrichtung nicht, in der sie untergebracht war. Grundsätzlich ist es so, dass das Personal in Geflüchteteneinrichtungen geschult ist, was Zwangsverheiratung, häusliche Gewalt und sexualisierte Gewalt betrifft. Wenn diese Bedrohung in irgendeiner Form bekannt gewesen wäre, hätte man diese Frau niemals ungeschützt in der Flüchtlingseinrichtung lassen dürfen.
Es scheint fast so, als hätte sich in den letzten 17 Jahren seit dem Tod von Hatun Sürücü kaum etwas verändert.
Das stimmt nicht. Es gibt zahlreiche Gremien und Projekte, die mit ihrer Expertise zur Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und sogenannten Ehrenmorden beitragen. Die Arbeit wird vom Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung koordiniert …
… den Sie als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg leiten.
Unser Verbund leistet eine intensive präventive Arbeit mit Infobroschüren und Workshops. Dazu gehört auch eine Handlungsempfehlung für die Berliner Jugendämter zum Thema „Intervention bei Gewalt gegen Mädchen und junge Frauen in traditionell-patriarchalen Familien.“ Wir geben den Mädchen, jungen Frauen und auch den Jungen jede erdenkliche Form von Hilfe, wenn wir um ihre Probleme wissen und sie das wollen. Wir haben auch Mulitplikatoren, die mehrsprachig sind. Und auch im Bereich der Justiz gibt es Fortschritte. Zwangsverheiratung ist inzwischen ein eigener Straftatbestand und sogenannte Ehrenmorde werden in der Regel nicht mehr als Totschlag mit einer geringen Strafe geahndet.
Die letzte Befragung zum Thema Zwangsverheiratung in Berlin fand 2017 statt und hatte eine Steigerung um 40 Prozent. Wie erklären Sie sich die Zunahme?
In der von Beratungseinrichtungen, Schulen und Projekten durchgeführten Befragung hatten wir in Berlin 570 Fälle von Zwangsverheiratungen. 2013 waren es 416 Fälle. Ich weiß nicht, ob die Fälle wirklich zugenommen haben. Ich vermute, dass wir eine Zunahme haben, weil die Beratungsangebote öffentlich gemacht werden und Zwangsverheiratung kein Tabuthema mehr ist. Mittlerweile suchen sich die Frauen auch online Beratungseinrichtungen. Man kann eine Beratung auch anonym wahrnehmen.
Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen legt das Mindestalter zur Heirat ohne Ausnahme auf 18 Jahre fest. Wie genau läuft so eine Zwangsverheiratung ab?
Das passiert ganz oft in den Sommerferien. 83 Prozent der Zwangsverheiratungen finden im Ausland statt. Überwiegend handelt es sich um türkische und arabische Nationalitäten, aber auch Länder wie Indien und Italien.
Italien?
Durchaus. Wir haben auch im christlichen Italien Zwangsverheiratungen. Viele denken, das sind überwiegend islamisch geprägte Länder, aber das ist nicht unbedingt der Fall.
Dann kommen die Mädchen aus den Sommerferien zurück und sind verheiratet?
Wenn wir Glück haben, kommen sie zurück. In der Regel bleiben sie aber im Heimatland der Eltern, wo sie verheiratet werden. Häufig ist es so, dass die Eltern den Wohnsitz hier abmelden. Das eine große Herausforderung, da ist auch PAPATYA sehr engagiert …
… die Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund.
Wir versuchen die Mädchen zurückzuholen. In vielen Fällen ist das auch gelungen. Natürlich versuchen wir im Vorfeld zu verhindern, dass es dazu kommt. Vor jeden Sommerferien verteilen wir Leitfäden an die Schulen, wie sie die Mädchen unterstützen können. Wenn eine Reise mit den Eltern zur Zwangsverheiratung ansteht, raten wir: Bleibt hier.
Wie läuft so eine Rückholaktion ab?
Im Ausland gibt es inzwischen schon ein großes Netzwerk und wir haben mittlerweile auch viele Verbündete. Es ist immer einfacher, die jungen Frauen zurückzuholen, wenn sie vorher bei uns eine eidesstattliche Versicherung abgegeben haben, dass sie im Falle einer Zwangsverheiratung im Ausland widerrechtlich dorthin gebracht worden sind. So können wir ihnen anwaltliche Unterstützung geben. Wichtig ist, dass wir wissen, wo sich die junge Frau befindet. In der Regel wird den Mädchen der Ausweis abgenommen und auch das Handy. Das ist alles äußerst schwierig. Wir beraten immer in der Richtung: Nehmt ein altes Handy mit und eine SIM-Karte. Und schaut zu, dass ihr eure Ausweisdokumente kopiert und in Berlin lasst, sodass wir hier tätig werden können.
Wie helfen Sie jungen Frauen, die in Berlin bleiben?
Jungen Frauen, die den Verdacht haben, zwangsverheiratet zu werden, können wir relativ gut helfen. Schwierig wird es immer dann, wenn es darum geht, Strafanzeige gegen die Eltern zu erstatten. Diesen letzten Schritt machen die meisten Mädchen nicht, weil sie wissen, das ist ein endgültiger Bruch. Das war bei Hatun Sürücü genauso wie bei Maryam H. Sie wollen selbstbestimmt und frei leben, aber sie wollen nicht den Bruch. Und das lässt sich gerade bei patriarchalen, archaisch geprägten Strukturen nicht machen.
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